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Serie »Nackt über Berlin«: Fieberwahnsinniger Kontrollverlust
In der Serie »Nackt über Berlin« machen zwei Schüler ihren Direktor zur Geisel und nötigen ihn zum Seelenstriptease
Smart Homes sind für Haus und Hof ungefähr das, was die künstliche Intelligenz dahinter ist: höchstens so klug wie ihre Programmierer, aber definitiv schlauer als deren Kundschaft. Jens Lamprecht (Thorsten Merten) zum Beispiel. Seine Wohnung wird nahezu vollständig von Halbleitern geregelt. Türen und Fenster, Stromzufuhr und Schließsysteme, Heizung und Wasser: alles vollautomatisch, fremdgesteuert, zur Funktionsfähigkeit verdammt.
Als Lamprecht nach einer durchzechten Nacht zuhause erwacht, hat sich sein Smart Home gegen ihn verschworen. Besser gesagt: Zwei Schüler haben es für ihre Interessen genutzt. Sie heißen Jannik (Lorenzo Germeno) und Tai (Anh Khoa Tran), werden an Lamprechts Schule als »Fetti« und »Fidschi« gemobbt, haben den pädagogisch Hauptverantwortlichen besinnungslos auf einer Parkbank aufgelesen und nutzen die Gunst der Stunde für einen Streich der krassen Sorte. Weil Tais Vater das Hightech-Gebäude reinigt, hat der Sohn Zugang zur Haustechnik und richtet sie gegen den verhassten Direktor.
Er verriegelt die Schlösser, zerstört den Router, kappt alle Versorgungsleitungen, fingiert eine Krankschreibung und sorgt nicht nur dafür, dass kein Lebenszeichen aus dem panzerglasversiegelten Appartement im 11. Stock nach außen dringt; mithilfe seines dicklichen Kumpels übernimmt der Sohn zugewanderter Vietnamesen komplett die Kontrolle über seine Geisel. Und das, davon zeugt schon die Auftaktszene mit dem regungslosen Schulleiter in der blutroten Badewanne, eskaliert von Minute zu Minute dieser viereinhalbstündigen Serie immer mehr.
Doch auch wenn das Ende bereits am Anfang erkennbar zu sein scheint: Wer die Romanvorlage von Regisseur und Drehbuchautor Axel Ranisch noch nicht kennt, sollte sich hüten, »Nackt über Berlin« oder Inhaltsangaben zu lesen. Der Weg dorthin ist nämlich von einer Originalität, die einem sechs Folgen lang ständig den Atem raubt. Und das, obwohl es lange Passagen von ohrenbetäubender Stille gibt.
Ranisch hat sein eigenes Buch ja nur teilweise als Entführungsdrama adaptiert. Handlungsrelevanter als die fesselnden Thriller-Elemente sind die noch viel fesselnderen Psychogramme jugendlicher Außenseiter, die unverhoffte Macht über vermeintlich autonome Hauptfiguren einer Gesellschaft kriegen, in der sozialer und ökonomischer Status plus Alter normalerweise über Autorität und Einfluss entscheiden.
Auch damit allerdings gibt sich dieses außergewöhnliche, aber keinesfalls beispiellose Format noch längst nicht zufrieden. In einer wilden Mischung aus Wolfgang Herrndorfs Coming-of-Age-Erzählung »Tschick« und der kindlichen Selbstbefreiungskomödie »Wer früher stirbt, ist länger tot« taucht es tief ein in die Seelen einer Zweckgemeinschaft benachteiligter Objekte hierarchischer Strukturen und macht sie dort zwar zu Subjekten. Aber auch von Opfern zu Tätern.
Denn während sich der kontaktscheue Tschaikowski-Fan Jannik unter Martina Eisenreichs wohltemperiertem Klassik-Soundtrack emotional zum energiegeladenen Tai hingezogen fühlt, verfolgt letzterer offenbar eine Agenda, die mit der rätselhaften Mel (Sidney Fahlisch) zu tun hat. Was wiederum Bezüge zu Lamprechts Kollegium aufweist, das am Sprung der Schülerin vom Schuldach nicht unschuldig zu sein scheint. Höchst verworren das Ganze.
Und vom vielfach preisgekrönten Außenseiter-Spezi Ranisch (»Ich fühl mich Disco«) ist der Plot obendrein mit einer Art magischem Realismus versehen, der Illusion und Wirklichkeit, Schlafen und Wachen, Vergangenheit und Gegenwart noch weiter verknotet. Wenn der eingangs souveräne, zusehends verzweifelte Hausarrest-Häftling Lamprecht durch sein Wohngefängnis tigert und dabei Zeitsprünge in die Biografie derer macht, die er für Geiselnehmer hält, reibt man sich beim Zusehen bisweilen die Augen.
Ebenso schnell allerdings reißt man sie auch wieder auf angesichts der darstellerischen Leistung, die vom Filmneuling Anh Khoa Tran über die erfahrenen Alwara Höfels und Devid Striesow als Janniks Eltern bis hin zum facettenreichen Seelenstriptease der Fernsehallzweckwaffe Thorsten Merten beeindruckt. Stichhaltiger als Drehbuch und Regie, Kamera und Ausstattung, Schnitt und Ton ist demnach fast nur das Casting von Liza Stutzky, die hier abermals ihre Menschenkenntnis beweist.
»Nackt über Berlin« ist ein verschroben empathisches, gefühlvoll schillerndes, wahrhaftig groteskes, fieberwahnsinnig gelungenes Empowerment-Melodram, das dank der Nische vermutlich nur ein kleines Publikum finden wird, aber Topquoten verdient hätte. Übrigens ist die Serie auch als beiläufiger Kommentar auf digital vernetzte Lebenswelten zu betrachten, die bei aller Alltagserleichterung am Ende nichts als Ärger machen. Aber das nur am Rande.
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