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Berlin unterbindet Solidarität – die Sicht eines »Ausländers«
Es ist eine seltsame Zeit in Berlin: Solidaritätsbekundungen mit den Menschen in Gaza werden verboten
Am Samstag gingen in London bis zu 150.000 Menschen auf die Straße, um ihre Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza zu bekunden. Am Tag darauf versammelten sich in Berlin 1.000 Menschen aus demselben Grund am Potsdamer Platz. Doch sieben Minuten vor Beginn der Kundgebung verkündete die Polizei, dass diese verboten sei. Die Polizist*innen begannen, Menschen zu schlagen, mit Pfefferspray zu besprühen und zu verhaften.
Es ging bei dieser Kundgebung nicht darum, die Hamas zu feiern: Die Organisator*innen sagten, sie würden weder Hamas-Fahnen noch antisemitische Slogans dulden. Das Verbot war präventiv – es war nichts Illegales passiert, aber die Polizei behauptete, dass etwas Illegales passieren könnte. Das Versammlungsrecht (Artikel 8 des deutschen Grundgesetzes) wird so auf Nichts reduziert.
Seit fast zwei Jahren werden in Berlin immer wieder pro-palästinensischen Demonstrationen verboten. Jetzt schikaniert die Polizei am Hermannplatz, in der Sonnenallee und in ganz Neukölln Personen, die eine Kufiya, ein palästinensisches Kopftuch, tragen. Sie haben sogar eine Versammlung der »Jüdischen Berliner*innen gegen Gewalt im Nahen Osten« verboten. Klingt das nach einem Feiern der Hamas?
Eine israelische Jüdin versuchte alleine zu demonstrieren und stand mit einem Schild auf dem Hermannplatz: »Als Jüdin und Israelin – Stoppt den Völkermord in Gaza!« Die Polizei ging auf sie zu und erklärte dies zu einer »ungesetzlichen Versammlung«. Wie kann eine einzelne Person eine Versammlung sein? Das spielt keine Rolle. Das Video endet damit, dass die Frau von den Polizist*innen weggeführt wird.
»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.
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Die Vereinten Nationen erklärten, dass die israelische Belagerung des Gazastreifens eine »eklatante Verletzung des humanitären Völkerrechts« darstellt. In Berlin ist es im Moment nicht möglich, UN-Positionen auf der Straße zu vertreten.
Die israelische Armee begeht Kriegsverbrechen, indem sie den mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza das Wasser und den Strom abstellt. Hören Sie nur auf Ursula von der Leyen, die konservative deutsche Politikerin, die an der Spitze der EU steht: »Angriffe auf die zivile Infrastruktur, insbesondere die Stromversorgung, sind Kriegsverbrechen. Männer, Frauen und Kinder vor dem Winter von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden – das sind reine Terrorakte. Und wir müssen sie als solche bezeichnen.« Allerdings warf von der Leyen Russland Kriegsverbrechen vor, nicht Israel. Angriffe auf zivile Infrastrukturen sind nun scheinbar nicht mehr »Terror«, sondern fallen unter das »Recht auf Selbstverteidigung«.
Der größte Schock für die Amerikaner*innen in Berlin war der Besuch von Bernie Sanders in der vergangenen Woche. Sanders, dessen Familie väterlicherseits im Holocaust »ausgelöscht« wurde, dürfte der berühmteste jüdische Politiker der Welt sein. Doch Saskia Esken, die Vorsitzende der SPD, sagte ein Treffen mit Sanders ab, weil dieser erklärt hatte: »Das Angreifen von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen, egal wer es begeht.«
Es wäre schön, wenn der deutsche Staat ernsthaft Antisemitismus bekämpfen würde. Aber schauen Sie sich nur Hubert Aiwanger an. Als Teenager hatte er Flugblätter in der Schultasche dabei, in denen ein neues Auschwitz gefordert wurde. Als das aufflog, hat er sich nicht entschuldigt. Er murmelte nur etwas von einem bösen Zwilling. Aiwanger wurde soeben als stellvertretender Ministerpräsident Bayerns bestätigt. Das ist kein Einzelfall: Maaßen, Sarrazin und Höcke gehören zu den Politikern, die mit antisemitischen Äußerungen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Der deutsche Staat bekämpft Antisemitismus nur, wenn er zur Unterdrückung von rassifizierten Menschen und Migrant*innen instrumentalisiert werden kann.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Es ist eine seltsame Zeit für uns Ausländer*innen in Berlin. In unseren Heimatländern ist es für Linke eine Selbstverständlichkeit, sich an die Seite von Kolonisierten zu stellen, die belagert und bombardiert werden. Deshalb hört man bei den verbotenen Demonstrationen in Berlin auch so viel Englisch. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass Zehntausende in London, New York oder Paris – darunter Tausende und Abertausende von jüdischen Linken – von Judenhass oder Liebe zu Islamisten motiviert sind? Was für ein düsteres Bild von der Welt! Die Realität ist, dass sich viele Menschen nach Frieden und Gerechtigkeit sehnen. Die Berliner Regierung kann solche Gefühle nicht für immer verbieten.
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