Was geht in Hamburg?

Neue Inszenierungen von Karin Beier und Christoph Marthaler am Deutschen Schauspielhaus

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 5 Min.
Abwarten zwischen Wärtern: Die Bühne von »Im Namen der Brise«
Abwarten zwischen Wärtern: Die Bühne von »Im Namen der Brise«

Wer in Hamburg in das altehrwürdige Deutsche Schauspielhaus geht, bekommt die volle Ladung Sozialrealismus bereits vor Beginn der Vorstellung ab. Der gegenüberliegende Hauptbahnhof der Hansestadt bietet Szenen des Elends, die selbst Maxim Gorki oder Gerhart Hauptmann nicht hätten drastischer schildern können. Es ist nicht ungewöhnlich, dass dem Premierenpublikum ein Weinglas oder eine Bierflasche von einem vorbeilaufenden Obdachlosen direkt vom Tisch gemopst wird. Man kann es als allerkleinste Umverteilungsmaßnahme betrachten, während politische unterlassen werden oder nur andersherum – nämlich von unten nach oben – betrieben werden. Was sagt man dazu? Hamburg, Stadt der Kontraste? Zwischen Geldadel und Hafenarbeiternostalgie?

Als eine der größten Bühnen der Bundesrepublik setzt das Deutsche Schauspielhaus nicht darauf, die Elendsszenen von der Straße auf die Bühne zu holen. Mit der neuen Spielzeit will das von Karin Beier geleitete Theater zeigen, dass man künstlerisch hoch hinaus will. Und bisher löst es sich ein. Die Intendantin selbst setzt mit dem Monumentalprojekt »Anthropolis« Maßstäbe. Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat sich fünf der großen Figuren der griechischen Mythologie und deren tragische Geschichten vorgenommen – Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste, Antigone –, teils in Überarbeitung der berühmten antiken Dichter, teils neu geschrieben. Es ist eine radikale Rückkehr zu den Grundlagen der europäischen Zivilisation, inzwischen auch als Buch erschienen.

»Anthropolis« sind fünf abendfüllende Inszenierungen, von denen nun alle zwei Wochen eine Premiere feiert, bevor sie ab Mitte November mehrmals als Marathon an einem Wochenende zu sehen sein werden – von Freitag- bis Sonntagabend. In der Antike war Theater durchaus kein entspannendes Abendvergnügen nach einem beanspruchenden Geschäftstag, wie es mit dem Bürgertum üblich wurde, sondern ein mehrtägiges Zusammenkommen, ein Fest der Polis. Heute würde man es wohl eher Festival oder Event nennen – und auch sonst lässt sich im 21. Jahrhundert nicht unmittelbar das antike Lebensgefühl wiederherstellen. Es würde albern oder, man erinnere sich an den Stefan-George-Kreis, grotesk anmuten. Obwohl in Hamburg bei einer Premierenfeier auch Plastiklorbeerkränze verteilt werden (allerdings ohne Togazwang), geht es nicht um Einfühlung, sondern um Reflexion.

Bereits mit der Eröffnung »Prolog/Dionysos« zeigt Beier als Regisseurin – die Intendantin führt bei allen Teilen Regie –, dass das Maßlose im Menschlichen hier das Thema ist. Das großartige Ensemble um Lina Beckmann trifft einen Ton zwischen Spaß und Ernst, der weder belehrt noch erklärt, der nicht nur der Unterhaltung dient, aber auch nicht alles mit klebrigem Pathos überschwemmt. Das überaus Seltene gelingt: Ein Abend zieht das Publikum durch sein eigenes Gewicht in die Probleme und Widersprüche hinein, das Publikum ist gefordert.

Über Monate und Jahre wurde eine ambitionierte Arbeit wie »Anthropolis« geplant und vorbereitet. Und nach den ersten Eindrücken – am Freitag feiert der vierte Teil »Iokaste« Uraufführung – kann man sagen: In Hamburg wird tatsächlich Theatergeschichte geschrieben.

Doch gibt es nicht nur »Anthropolis«, auch das sonstige Programm des Deutschen Schauspielhauses ist beeindruckend. Vergangenes Wochenende wurde die Signa-Performance »Das 13. Jahr« gezeigt, am Wochenende zuvor feierte Christoph Marthaler mit »Im Namen der Brise« Premiere, eine Hommage an die Dichterin Emily Dickinson. Marthaler hatte über viele Jahre an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter Frank Castorf mit Abenden wie »Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!« bis »Hallelujah (Ein Reservat)« die feine musikalische Melancholie zelebriert, nun tut er das nach seiner Vertreibung aus Berlin in Hamburg. So entstand die Nestroy-Posse »Häuptling Abendwind«, es folgte mit dem Hölderlin-Abend »Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten« eine leise und versponnene Arbeit, so wie nun auch »Im Namen der Brise«.

Nun landet man doch im Bahnhof, allerdings einem ganz anderen als dem Hamburger Hauptbahnhof: Die Bühne von Duri Bischoff sieht eher aus wie ein verlassener, etwas abgeranzter Provinzbahnhof, an dem kaum noch ein Zug hält. Die Welt rauscht vorbei, doch hier ist die Zeit noch stehen geblieben, die Wände so grau wie die Uniformen der beiden Bahnsteigwärter mit ihren Trillerpfeifen in ihren Schalterbüros, gespielt von Magne Håvard Brekke und Samuel Weiss. Bendix Dethleffsen kommt herein, wirft den braunen Trenchcoat über einen der – natürlich! – grauen Mülleimer und wuchtet einen Stapel Noten auf das Piano.

Was dann erklingt, reicht von Mozart über Liszt bis zu Gershwin und vielen anderen. Dazwischen kommen Gedichte und Auszüge aus Briefen der US-amerikanischen Dichterin Dickinson. Es sind Worte und Lieder, die zwar nicht auf den Zug, aber auf ein Publikum warten. Das trifft vor allem auf Dickinson zu – ein Großteil ihrer Werke fand sich erst nach ihrem Tod im Nachlass und war zuvor unveröffentlicht geblieben.

Fee Aviv Dubois, Josefine Israel und Sasha Rau wandeln ziellos durch die Bahnhofshalle, gelegentlich lassen sie sich auf den Bänken nieder oder starren auf einen eigensinnigen Ventilator, aus dem eine blecherne Stimme kommt. Und immer wieder slapstickhafte Momente. Oder bewegungsloses Schweigen. Oder traumhafte A-cappella-Versionen wie »I’m so Excited« von The Pointer Sisters.

Nur excited, also aufgeregt, ist eigentlich niemand auf der Bühne. »I just can’t hide it«? Nun ja, auch eher nicht. Doch genau darin liegt der wundervolle Witz dieses berührenden Marthaler-Abends, der nur Andeutungen des Schönen in einer schaurig-tristen Welt macht, der sich keineswegs aufplustert, sondern der Poesie des Unscheinbaren huldigt – eine Form der Selbstbeschränkung jenseits von Sozialrealismus und selbstgenügsamer Spielerei.

»Im Namen der Brise« lässt einen beglückt, leicht verstört und auch ein bisschen sehnsuchtsvoll zurück. Lange hat man so etwas im Theater nicht mehr erlebt.

Nächste Vorstellungen »Im Namen der Brise«: 1.11., 2.11., 25.11.

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