Champions League: Der 1. FC Union und die Fehler im Erfolg

Köpenick im Krisenmodus: Die Fußballer verlieren auch gegen Neapel, der Verein wächst über sich hinaus

Frieden als frommer Wunsch: Union mit Diogo Leite (l.), Sheraldo Becker (r.) und Robin Gosens findet nach neun Niederlagen nicht nur sportlich keine Ruhe.
Frieden als frommer Wunsch: Union mit Diogo Leite (l.), Sheraldo Becker (r.) und Robin Gosens findet nach neun Niederlagen nicht nur sportlich keine Ruhe.

»Wir sind keine Champions-League-Mannschaft«, wiederholte Urs Fischer am späten Dienstagabend. Insofern lebt der 1. FC Union gerade über seine Verhältnisse. Das gilt auch für den Ort, an dem der Trainer des Köpenicker Klubs über die 0:1-Niederlage gegen Italiens Meister SSC Neapel sprach. Mit mehr als 72 000 Zuschauern war das Berliner Olympiastadion zwar wieder ausverkauft, wie ein Heimspiel fühlen sich Partien in Charlottenburg aber keineswegs an. Theodor W. Adorno sagte es einst so: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Die Fans des 1. FC Union beschrieben es auf einem riesigen Transparent so: »Wir brauchen die Alte Försterei wie die Luft zum Leben.«

Die Anhängerschaft ist generell ein guter Indikator für den Zustand eines Vereins. Wie üblich wurde die Mannschaft auch nach der Niederlage gegen Neapel gefeiert. Sie hatte ja auch ein gutes Spiel gezeigt, sich mehr Torchancen erspielt und war auch in fast allen anderen Statistiken besser als der Gegner. Ins Tor traf allerdings nur Giacomo Raspadori, in der 65. Minute für Neapel. Das empfand Urs Fischer als »brutal«, weil der Gegner »nur einen Schuss auf unser Tor« abgegeben habe und lobte seine Mannschaft: »Wir hatten Napoli sehr gut im Griff.«

Bestätigung, Trost und Aufmunterung für die Spieler gab es schon vorher. Auf der obligatorischen Ehrenrunde nach dem Abpfiff verharrte das Team länger als üblich vor dem Block der Ultras. »Heute war geil. Ihr habt super gespielt. Kopf hoch. Weiter so!«, hieß es da im direkten Gespräch. Auch in der sportlichen Krise mit nun neun Niederlagen in Folge stehen die Fans bedingungslos hinter der Mannschaft. Die meisten jedenfalls. Denn Transparente, die vor dem Anpfiff zu sehen waren, lassen den Schluss zu, dass sich etwas verändert hat. »Nicht vor Abpfiff das Stadion zu verlassen«, das sei ebenso Eisern Union wie »Nie die Mannschaft auszupfeifen«.

Diese Worte sind weniger Hinweis als Aufforderung – von den alten an die vielen neuen Fans. Rund 63 000 Mitglieder hat der 1. FC Union mittlerweile, und damit fast 20 000 mehr als noch vor einem Jahr. Gewachsen ist der Verein auch in vielen anderen Bereichen. In der vergangenen Spielzeit steigerte er seine Einnahmen im Vergleich zur Vorsaison um mehr als 50 Millionen auf 174 Millionen Euro. Erstmals in der Vereinsgeschichte hat Union damit ein positives Eigenkapital, wie es so unschön heißt. »Über die enge Verknüpfung von sportlichem und wirtschaftlichem Erfolg sprechen wir seit vielen Jahren und das Ergebnis der letzten Saison bestätigt uns darin erneut«, sagte Präsident Dirk Zingler jüngst auf der Mitgliederversammlung. In der aktuellen Saison sollen die Einnahmen nochmals steigen – auf 190 Millionen Euro. All das sind Zahlen des Erfolgs. In diesem Zustand, so heißt es, werden die größten Fehler gemacht. Der Umzug ins ungeliebte Olympiastadion für die Spiele in der Champions League könnte einer davon sein.

Am 27. Mai hatte sich der 1. FC Union mit einem 1:0-Sieg gegen Werder Bremen für die Königsklasse qualifiziert. Einen Tag später sagte Dirk Zingler: »Immer, wenn es geht, spielen wir zuhause in der Alten Försterei.« Es ist davon auszugehen, dass der Präsident diese Ankündigung damals ernst gemeint hat. Dass es noch immer seine Meinung ist, ist zwar etwas spekulativ, aber keineswegs unwahrscheinlich. Fakt dagegen ist, dass der Verein auch personell und strukturell gewachsen ist – und sich somit ein sehr viel breiteres Meinungsbild als in den Jahren des Aufstiegs entwickelt hat, das Einfluss auf Entscheidungen hat.

Die Spiele in der Gruppe C der Champions League wären in der Alten Försterei möglich gewesen. Dafür hatte Union bei der Uefa gekämpft. Zum letzten Gruppenspiel kommt am 12. Dezember der Rekordsieger nach Berlin. Dass Real Madrid in der Alten Försterei gespielt hat, davon wird man in Köpenick vielleicht nie sprechen können. Das kann, wie auch der ständig vom Verein benutzte Begriff »Heimat«, dem ein oder anderen zu verklärt romantisch sein. Was sich in Charlottenburg aber falsch anfühlt, ist das Stadionerlebnis: Es fehlen die Wucht und der Druck der Alten Försterei. Und das Selbstverständnis. Also sehr viel von dem, was letztlich auch der Mannschaft immer Kraft gegeben hat.

Neben Präsident Zingler und Trainer Fischer ist Manager Oliver Ruhnert ein Gesicht des Erfolgs. Am 28. Mai, einen Tag nach dem famosen Finale der vergangenen Bundesligasaison, sagte er: »Wir sind heute in einer Situation, entscheiden zu können, was gut für unseren Klub ist. Beim Aufstieg in die Bundesliga mussten wir Sachen machen, um konkurrenzfähig zu sein.« Diese Sachen machte Ruhnert beeindruckend gut. Hat auch er vielleicht Fehler gemacht?

Nach eigener Aussage stellte Ruhnert bei Spielertransfers auch immer die Charakterfrage. Am Dienstagabend verweigerte der 20-jährige Stürmer David Fofana bei seiner Auswechslung Fischer den obligatorischen Handschlag. »Es wird ein Gespräch geben«, kündigte der Trainer an. Ein solches hatte er zuvor schon mit Leonardo Bonucci geführt. Trotzdem machte der italienische Europameister nach dem Spiel seinen Unmut über sein Bankdasein öffentlich und kündigte an, ein Gespräch mit dem Trainer suchen zu wollen. Fischer reagierte »überrascht«.

Sportlich sind es bei Union trotz neun Niederlagen in Folge nur Indizien, dass der Zusammenhalt, die Kraft der Gemeinschaft, die den Klub auf erstaunlichem Wege bis in die Champions League geführt haben, bröckeln. Alle drei Spiele in der Königsklasse wurden jeweils nur mit einem Tor Unterschied verloren. Und abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie am vergangenen Wochenende die desaströse erste Halbzeit im Heimspiel gegen den VfB Stuttgart, hat die Mannschaft meist gute Auftritte gezeigt. »Wir versuchen, innerhalb des Vereins Ruhe zu bewahren«, kommentierte Fischer die mediale Diskussion über seine Person, zeigte dafür angesichts der Ergebnisse aber auch Verständnis.

Mehr als nur leise Andeutungen sind die Sorgen und Ängste der Fans um die Werte und die Kultur ihres Vereins. Das größte aller Transparente am Dienstagabend war ein schon öfter gesehenes: »Eisern ist, nie zu vergessen, wo man herkommt.« In jedem Fall aus Köpenick, aus der Alten Försterei. Weil es kein richtiges Leben im falschen gibt.

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