Kochbücher: Tagesmenü heute: Eat the rich

Von Wien über London nach Tokio – Vier Neuerscheinungen der gastronomischen Literatur

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.
K.u.K aber in bodenständig: Pogatschen
K.u.K aber in bodenständig: Pogatschen

Die Wiener Küche, so Rolf Schwendter in seinem Buch »Arme essen, Reiche speisen« von 1995, könne nicht eigenständig genannt werden. Die zentraleuropäische Metropole habe die Einflüsse sowohl des höfischen Verkehrs und seiner Küchen (etwa der französischen und italienischen) ebenso aufgesogen wie die gastronomischen Ergebnisse der gesamten Migration aus der Doppelmonarchie. Diese Einflüsse waren vielfältig. Der 1800 nach Wien migrierte Frankfurter Fleischergeselle Johann Georg Lanner erfand etwa in Wien die Frankfurter Würstchen. Einzig das Wiener Backhendl, so Schwendter, mache einen einigermaßen originalen Eindruck.

»Wiener Küche mit Herz« heißt das vielversprechende Kochbuch der zwischen Suppentöpfen aufgewachsenen Stefanie Herkner, in dem es »um die Wiener Küche in ihrer absolut ursprünglichen Art geht, so wie es die Mütter und Großmütter früher gemacht haben«. Unter welchem Einfluss auch immer.

Der Herknersche Bauernhof wiederum befindet sich in Slowenien. Ihr Vater, so bekennt Herkner schon auf den ersten Seiten, habe neben der Wiener Küche auch die französische Cuisine geliebt: »Grammel-Pogatschen und Gänseleber waren bei ihm kein Widerspruch.« Pogatschen sind runde, salzige Gebäckstücke, die im Karpatenbecken, auf dem Balkan und in der Türkei zur typischen Küche gehören. Neben ihrem Schweinespeck-Gebäck bietet Herkner als Vorspeise auch »Russen mit Erdäpfel-Mayonnaise-Salat«. Bei diesen Russen handelt es sich um ausgenommene, marinierte kleine Heringe ohne Kopf. Der Name kommt daher, dass die Heringe früher ausschließlich im russischen Meer (dem Schwarzen Meer) gefangen wurden.

Auch Herkner-Rezepte für das ungarische Nationalgericht Gulasch gibt es. Und zur weiteren Bestätigung der Schwendter’schen These dürfen Szegediner Krautfleisch und Sarma in Gestalt von serbischen Krautrouladen nicht fehlen. Die Bezeichnung Sarma leitet sich von sarmak (Türkisch für »etwas in etwas einwickeln«) ab. Der Herkner’sche »Himbeerwahnsinn«, die Himbeergrütze, geht zurück auf die Lehr- und Wanderjahre von Herkners Vater, die ihn unter anderem nach Hamburg führten. Aus Indien brachte er die Idee für sein Curry-Ei mit. Wer in Wien weilt, sollte das Restaurant »Zur Herknerin« in der Wiener Hauptstraße besuchen und sich von der Qualität der Herkner-Küche überzeugen.

Im Londoner Stadtteil Covent Garden gibt es eine kleine asiatische Kochschule, die School of Wok. Dort baut der Chef, Jeremy Pang, in England sozialisiert mit Baked Beans auf Toast, auf Einflüsse aus China, Singapur, Malaysia, Vietnam, Thailand, Indonesien, von den Philippinen, aus Korea und Japan und rät in seinem Kochbuch »School of Wok: Einfache Asia-Rezepte, schneller gekocht als geliefert«: »Statt sich ein bestimmtes Tellergericht vorzustellen, sollte man sich den ganzen Tisch aus der Vogelperspektive vorstellen, um ein Gefühl für die harmonische Zusammenstellung asiatischer Gerichte zu entwickeln – langsam Geschmortes, kurz und scharf angebratenes Gemüse, farbenfrohe Stir-Frys und in den Lücken dazwischen Schalen mit dampfendem Reis oder Nudeln.«

Die präzis formulierten Pang-Rezepte gelten zunächst allerlei Geflügelgerichten: Hähnchen nach General Tso (benannt nach Tso Tsung-t’ang, einem chinesischen Militär, obwohl es keine Verbindung von Tso mit dem Hähnchen gibt und das Gericht in der Provinz Hunan, wo er herkam, unbekannt ist), Szechuan-Hähnchen, Taiwanesisches Popcorn-Hähnchen, gedämpftes Hähnchen nach Guangxi-Art oder echt scharfes Hähnchen, das in Chilis schwimmt.

Ein Kabeljaugericht trägt den merkwürdigen Namen »Eichhörnchen«-Fisch süß-sauer. Aus Thailand stammt das Rezept für »Eier für den Schwiegersohn«. Laut Pangs Lieblingsanekdote wurde dieses Gericht einst von einer Löwen-Mama als Warnung für ihren Schwiegersohn gekocht, ihre Tochter ja gut zu behandeln, da sie sonst seine »Eier« frittieren würde. Die Vor- und Zubereitung der Eier mit reichlich Chili dauern wie viele Pang-Gerichte weniger als zwanzig Minuten. Auch wer auf Fleisch, Fisch und Eier verzichtet, wird von Pang bedacht und bekommt ein Rezept für gebratenes Tempeh (eine Proteinbombe auf Sojabasis) mit Satay-, also Erdnuss-Sauce für Japchae (gebratene Süßkartoffelbandnudeln mit Gemüse) oder für Gemüse-Tempura.

Womit wir bei Japan wären beziehungsweise bei den portugiesischen Jesuiten-Missionaren des späten 16. Jahrhunderts, die den Teigmantel nach Japan brachten. Dort wurde das Tempura-Rezept verfeinert, indem in die Dipping-Sauce dünne Daikon-, also Rettichscheiben gegeben wurden. So schildert es Shizuo Tsuji in seinem Werk »Japanese Cooking – A Simple Art«, das erstmals 1980 erschien und das Standardwerk zur japanischen Küche ist, und dies vor allem deshalb, weil Tsuji nicht nur Rezepte liefert, sondern auch die traditionellen Techniken sowie die ästhetischen Aspekte, den »Spirit of Japan« beschreibt.

Von Tsuji inspiriert ist das Alltagsküchenkochbuch »Japan Home Kitchen« von Maori Murota, in dem erneut aufgezeigt wird, dass japanische Küche mehr ist als Röllchen aus erkaltetem, gesäuertem Reis, ergänzt um Zutaten wie rohen oder geräucherten Fisch, rohe Meeresfrüchte, getrockneten und gerösteten Seetang, Gemüse und Tofu-Varianten, Sushi genannt. Selbstverständlich wartet Murota mit Sushi- bzw. Futomaki- und Onigiri-Variationen auf. Wie wär’s aber mal mit Aemono, also Salaten mit Algen? Mit fermentierten Sojabohnen (Natto) oder schnell eingelegtem Gemüse (Sokuseki-zuke)? Oder mit frittierten Tofubällchen (Ganmodoki)?

In Schwendters eingangs zitiertem Buch heißt es: »Strukturell betrachtet, bestand die Küche der armen Leute aus dem jeweils regional bestimmenden Kohlehydratträger (es gab Brei-, Brot- und Kartoffelregionen), Wasser, Salz, dem regional gerade noch erschwinglichen Fett (sofern vorhanden) sowie einem mehr oder weniger elaborierten Bündel von ›Grenzgeschmacksträgern‹ (um diesen synthetischen Begriff in die Umgangssprache zu übersetzen: jenen Geschmacksträgern, die sowohl gerade noch genießbar als auch gerade noch erhältlich bzw. bezahlbar sind).«

Dies ist nun keineswegs auf Zentraleuropa beschränkt: In Huguette Couffignals »Die Küche der Armen« bildet dies, weltweit, einen durchgehenden Zug. Couffignals Buch erschien erstmals 1978 im März Verlag in deutscher Sprache und wurde nun neu aufgelegt unter dem Titel »Die Küche der Armen. Mit 300 Rezepten aus aller Welt«. Im Vorwort des Buches heißt es: »Überall auf der Welt hat die Armut ein anderes Gesicht. Ein ziemlich großer Teil der Menschheit lebt im Elend, jedoch auf sehr verschiedene Weise.« Auszugehen ist davon, dass die Armut weltweit zugenommen hat, seit Couffignal ihr Buch 1970 verfasste, und dies nicht nur im globalen Süden, sondern auch in den imperialistischen Zentren.

Die vorgefertigte Weltmarktstrukturküche (etwa in Gestalt von Systembulettenanbietern) wurde ausgeweitet. Hinzu kommt der allmähliche Wegfall einer Reihe von Nahrungsmitteln aufgrund ökologischer Katastrophen (wie Tschernobyl; was die atomare Fukushima-Brühe im Meer anrichten wird, wissen wir noch nicht). Und last but not least stellt sich mit dem Klimawandel die Frage, wie unsere Ernährung zukünftig aussehen wird. Je schneller die Umstellung auf ökologischen Landbau erfolgt und je größer die Öko-Anbaufläche ist, umso größer die Umweltentlastung und Kosteneinsparung für die Gesellschaft, heißt es in einer Studie der TU München. Ausgehend von der Marx’schen ökologischen Kritik am Kapitalismus und dessen Wachstumsgrenzen, spricht der japanische Autor Kohei Saito von einem anzustrebenden »degrowth communism«.

»Die Küche der Armen«, so lesen wir im Vorwort dieses Buches weiter, »war immer schon notgedrungen nachhaltiger als die der Reichen. Inzwischen ist eine klimafreundliche Ernährung ein Statussymbol vieler Privilegierter geworden.«

Doch bereits 1978 sangen die British Lions »Eat the Rich«, die Metalrocker von Motörhead intonierten 1987 »Come on baby, and eat the rich« und 1994 veröffentlichte die kanadische Alternativcombo The Lowest of the Low auf ihrem Album »Hallucigenia« den Song »Oh, I'm eating the rich now/It's a revolutionary chow-down«.

Stefanie Herkner: Wiener Küche mit Herz, Brandstätter, 2022, 202 S., geb., 35 €
Jeremy Pang: School of Wok: Einfache Asia-Rezepte, schneller gekocht als geliefert, Dorley Kindersley, 208 S., geb., 19,95 €
Maori Murota: Japan Home Kitchen, Dorley Kindersley, 2023, 264 S., geb., 26,95 €
Huguette Couffignal: Die Küche der Armen. Mit 300 Rezepten aus aller Welt, März, 2023, 368 S., geb., 26 €

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.