Dagestan: Antisemitismus oder Provokation?

Was hinter dem judenfeindlichen Mob von Machatschkala steckt

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
Bei der Suche nach angeblichen jüdischen Flüchtlichen aus Israel richtete der Mob von Machatschkala von fast drei Millionen Euro an.
Bei der Suche nach angeblichen jüdischen Flüchtlichen aus Israel richtete der Mob von Machatschkala von fast drei Millionen Euro an.

Zwei Tage, nachdem ein Mob über mehrere Stunden auf dem Flughafen der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala gewütet und ankommende Flugzeuge »auf der Suche nach Juden« belagert hat, diskutiert Russland, wie es zu den verstörenden Szenen kommen konnte.

Am 29. Oktober versammelten sich nach Polizeiangaben 1500 junge Männer am Flughafen, nachdem über Telegram die Ankunft einer Maschine mit angeblichen jüdischen Flüchtlingen aus Israel angekündigt worden war. Erst nach Stunden konnten die Sicherheitskräfte die Situation unter Kontrolle bringen. Bis Dienstag wurden 83 Personen festgenommen.

Dagestans Republikchef Sergej Melikow sprach bei einem Besuch auf dem Flughafen von einem gezielten Versuch, die Lage in Dagestan zu destabilisieren. »Russlands Feinde«, so Melikow, wollten im Land Spannungen schüren. Er nannte explizit die Ukraine, die mit Hilfe von Telegram Unruhen im Nordkaukasus entfachen wolle. Viele Medien konzentrierten sich am Sonntag auf den Telegram-Kanal »Utro Dagestana«, der in Verbindung mit dem in die Ukraine geflohenen Ex-Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow gebracht wird. Dieser hatte den Kanal gegründet, sich später aber offiziell losgesagt. Tatsächlich hatte der Kanal bereits in den Tagen zuvor zu judenfeindlichen Aktionen aufgerufen.

Moskau beschuldigt Kiew und den Westen

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Bei einer Sitzung mit den Spitzen des russischen Sicherheitsapparates bekräftigte Präsident Wladimir Putin die »ukrainische Spur« und beschuldigte auch den Westen, hinter dem Mob zu stehen. Kremlsprecher Dmitrij Peskow erklärte, es sei offensichtlich, dass die Ausschreitungen durch Einmischung aus dem Ausland verursacht worden seien. Es gehe um »die Versuche des Westens, die Lage im Nahen Osten dazu zu nutzen, eine Spaltung der russischen Gesellschaft herbeizuführen«. Am Dienstag forderte Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow, der unmittelbar nach dem Überfall der Hamas auf Israel seine Solidarität mit Palästina verkündet hatte, am Dienstag ein hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte, um Unruhen wie in Machatschkala zu verhindern. »Geben Sie drei Warnschüsse in die Luft ab, und wenn der Mensch den Aufforderungen immer noch nicht nachkommt, den vierten in die Stirn«, so Kadyrow.

Der Krieg im Nahen Osten wird von der muslimisch geprägten Bevölkerung im Nordkaukasus und insbesondere in Dagestan mit großer Emotionalität verfolgt. Die Menschen in der Region, von denen viele Arabisch sprechen, sehen sich als Teil der weltweiten muslimischen Gemeinschaft und identifizieren sich mit den Palästinensern, zitiert der russischsprachige Dienst der BBC mehrere Experten. Zudem gibt es viele in der arabischen Welt gut vernetzte Blogger, die die Stimmung zusätzlich anheizen. Dass Politiker wie Kadyrow und bekannte (Ex-)Sportler wie Chabib Nurmagomedow schnell für Palästina Partei ergriffen, trug nicht zur Beruhigung bei. Die Unruhen von Machatschkala verstehen die Menschen als Verbundenheit mit der arabischen Welt.

Dagestan fühlt sich als Teil der arabischen Welt

Obwohl Putin sich vor wenigen Tagen noch öffentlichkeitswirksam mit Vertretern aller großen Religionen in Russland traf, denken jüdische Gemeinden mittlerweile sogar über eine Evakuierung aus der Nordkaukasusrepublik nach, erklärte Owadja Isakow, Mitglied des Oberrabinats Russlands in Dagestan. »Die Situation in Dagestan ist sehr schwer, die Menschen aus der Gemeinde haben Angst. Sie rufen an und ich weiß nicht, was ich raten soll.

Von tief verwurzeltem Antisemitismus, den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Russland bescheinigt, wollen Kenner der Region nichts wissen. Die Judenfeindlichkeit habe in Dagestan nicht zugenommen, meinen Menschenrechtler und verweisen auf die Bergjuden, die seit Jahrhunderten in der Region leben. Auch der Kaukasus-Experte Alexander Karawajew spricht von einem eigentlich unproblematischen Zusammenleben der örtlichen Juden und Muslime.

Um weitere Ausschreitungen oder auch nur Demonstrationen zu verhindern, haben Dagestans Sicherheitsbehörden ihre Präsenz erhöht, zwischenzeitlich war auch Telegram nicht zu erreichen. Einen weiteren Unruheherd kann Moskau nicht gebrauchen. Schon jetzt habe der Mob vom Flughafen viel Schaden angerichtet, meint Magomed Musejaw, Besitzer der russischen Ausgabe des Magazins «Forbes». Auf Youtube bezeichnete er die Bilder aus Machatschkala als schockierend und beschämend. Dagestan, so Musajew, werde sehr lange brauchen, um sich «von den Geschehnissen reinzuwaschen».

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