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Ukraine: Nachschub für die Front
Die Ukraine intensiviert die Mobilisierung für die Verteidigung gegen Russland
Wer am Fahrkartenschalter der Kiewer Metrostation Woksalna wartet, kann Zeuge eines merkwürdigen Schauspiels werden. Direkt neben der Schlange von ungeduldigen Pendlern, die mit den Vorortzügen in die ukrainische Hauptstadt kommen, stehen mitten im Gedränge drei Männer. Sie sind in Schwarz gekleidet, tragen Käppi, und erst beim zweiten Blick erkennt man, dass es sich um Polizisten handelt. Und sie haben Zeit. Viel Zeit. Ihr Blick ruht auf dem Strom an Menschen, die sich durch die Schwingtüre am Eingang drängen. Die drei Polizisten interessieren sich ausschließlich für die männlichen Fahrgäste. Geduldig warten sie auf den richtigen Moment, wie Löwen vor einer Herde von Büffeln. Es ist immer der gleiche Typ Mann, den sie sich herausfischen: etwas unrasiert, überdurchschnittlich lange Haare, knapp 30 Jahre alt. Typ Musiker. Es sind Männer, denen man ansieht, dass sie noch nicht in der ukrainischen Armee gedient haben.
Diskret zeigen die Polizisten den erschrockenen Männern, ihrem Fang, ihren Dienstausweis und stellen eine Frage, die im Getümmel der Metro für alle anderen nicht zu verstehen ist. Manche der Angesprochenen kramen einen Zettel hervor, auf dem ein großer blauer Stempel prangt, der vor dem Zugriff durch die drei Männer in Schwarz schützt. Nach einem prüfenden Blick der Polizisten falten sie den Zettel wieder zusammen und verschwinden anschließend im Kiewer Untergrund. Wer aber kein Papier mit dem befreienden blauen Stempel zur Hand hat, muss »noch ein paar Fragen beantworten«, und zwar in der Polizeistation direkt in der Metro. Bis auf einen kommen alle nach wenigen Minuten wieder raus. Was wie eine tagfüllende Beobachtung klingt, spielte sich tatsächlich innerhalb von 15 Minuten ab. Rechnet man diesen einen Mann, der jetzt offensichtlich in den Krieg muss, auf den ganzen Tag hoch, sind der Armee mehrere Dutzend Männer ins Netz gegangen. Allein an einer Metrostation im Herzen von Kiew.
Jeder fünfte im Dorf wurde eingezogen
Die ukrainische Regierung hat ihre Mobilisierungsbemühungen in den vergangenen Wochen verstärkt. Im ganzen Land sind Polizisten und Militärkommissare eifrig auf der Suche nach Männern, die sich dem Kriegsdienst entziehen wollen. Wie es abläuft, wenn Betroffene ihre Vorladung zum Militär bekommen, zeigt ein Beispiel aus der zweitgrößten Stadt des Landes, Charkow. Am helllichten Tag zwangen Polizisten in der Kibaltschitscha-Straße einen 56-Jährigen in ein Auto und brachten ihn zum Einberufungsbüro, wo er innerhalb von 20 Minuten für wehrfähig erklärt wurde. Schon einen Tag später musste er mit seinen Sachen wieder erscheinen, um an die Front gebracht zu werden, berichtete das Charkower journalistische Graswurzelportal »Assembly«.
Dabei haben Männer in den Großstädten noch vergleichsweise Glück. Denn auf dem Land sind die Militärbehörden weitaus eifriger. In Onoprijiwka, einem zentralukrainischen Dorf in der Nähe von Uman, seien 50 Männer in den Krieg eingezogen worden, erzählt Mähdrescherfahrer Oleksij »nd«. Dabei hat der Ort nur 350 Einwohner. In der Erntezeit fehlen auf dem Land jetzt wichtige Arbeitskräfte.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
»Jeder wird kämpfen müssen«
Und die Regierung in Kiew will noch mehr Einberufungen. Wichtig sei vor allem zu verhindern, dass sich Männer vor dem Kriegsdienst drückten, so Natalija Kalmykowa, seit einem Monat stellvertretende Verteidigungsministerin. Hunderttausende Ukrainer haben bisher versucht, sich der Einberufung zu entziehen. Mit einem neuen Gesetz, das derzeit in Vorbereitung ist, soll dem entgegengewirkt werden. Gleichzeitig riet Kalmykowa den Männern, sich doch freiwillig bei den Wehrbehörden zu melden. Dies hätte den Vorteil, dass sie mitbestimmen könnten, wo man sie einsetzen wird.
In einem Interview mit dem »Economist« bestätigte mit dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, erstmals ein hochrangiger Ukrainer, dass die Gegenoffensive gescheitert ist und man kurz vor einem Stellungskrieg stehe, der sich über Jahre hinziehen könnte. Da die technischen Möglichkeiten ausgeschöpft seien, werde man früher oder später feststellen, dass man nicht genügend Menschen für den Kampf habe, so Saluschnyj.
Möglicherweise wird in der Ukraine bald jeder kämpfen (oder zumindest dienen) müssen, legte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksij Danilow, am Donnerstag gegenüber dem Portal »Liga« nach. Dies sei ein Axiom und »darüber muss man sich nicht wundern«, sagte Danilow. Um gegen Russland zu siegen, müsse man auch die Altersbeschränkung für die Armee aufheben, bisherige Vorstellungen vom Krieg seien überholt. »Wenn man moderne Waffen nutzt, spielt das Alter keine Rolle. Die Vorstellung, dass in der ukrainischen Armee alle jung sein müssen, ist ein wenig verzerrt«, so Danilow.
Für ukrainische Männer, die nicht in den Krieg wollen, sind solche Aussagen kein gutes Zeichen. Schon jetzt geht der Staat verstärkt gegen sie vor. Im Gebiet Charkow, schreibt »Assembly«, hat die Zahl der Strafverfahren gegen Kriegsdienstverweigerer drastisch zugenommen. Zwischen drei und fünf Jahren müssen die Männer in der Regel ins Gefängnis. Bewährungsstrafen werden nicht mehr ausgesprochen. Seit Beginn des russischen Überfalls wurde gegen 8000 Männer, die nicht kämpfen wollen, ein Verfahren eingeleitet.
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