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Wrestling: Don’t try this at home!
Sie schlugen sich und wurden bejubelt: World Wrestling Entertainment machte Halt in Berlin.
Ein Wanderzirkus mit Muskelmännern und -frauen hielt Samstag vor einer Woche in Berlin-Friedrichshain. Tausende drängten sich vor der Mercedes-Benz-Arena. Sie trugen überdimensionierte Gürtel über den Schultern, die sie als Champions im Schwergewicht auswiesen, hatten T-Shirts an, auf denen ein mittlerweile 70-jähriger Mann mit grellgelbem Walrossbart zu sehen war: Hulk Hogan. Manche gaben sich als Mitglieder einer von Soziologen nicht weiter bestimmten D-Generation X aus; andere Oberteile zierte das Konterfei eines ebenfalls älteren Herrn namens Nature Boy Ric Flair. Hertha- und Union-Fans ließen sich beim Warten in Ruhe.
Amerikas größter Wrestling-Veranstalter mit dem kompromisslosen Namen World Wrestling Entertainment, kurz WWE, war nach Berlin gekommen, verkaufte Tickets ab knapp 50 Euro bis sehr viel mehr. Fans von recht jung bis ziemlich alt bot sich rund drei Stunden ein akrobatisches Spektakel. Ein Kunstsport im riesigen Stadion; Massenkatharsis; vollständige Identifikation mit geschundenen wie gestählten Körpern, die sich in Action-Figuren verwandeln lassen müssen.
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Den Abend eröffnete ein Match zwischen Sami Zayn und Dominik Myterio. Im Wrestling sind Gut und Böse klar getrennt. Die beliebten Lieben, sportliche Ehrenmänner und -frauen werden »Faces« genannt in der Fachsprache. Die dunklen Gestalten sind »Heels«. Sami, vollbärtig, langhaarig, lächelnd, wollte einen ordentlichen Kampf, der gemeine Latino-Goth Dominik scheute den offenen Konflikt, glitt immer wieder unter den Seilen aus dem Ring und durfte sich von den Fans auf den besten Plätzen böse Beleidigungen anhören. In den USA üblich und von den Deutschen gerne adaptiert, dient dazu der Ausruf »You suck!«
Dominik ist der Sohn des beliebten Superstars Rey Mysterio (deutsch: König Geheimnisvoll). Der kommt vom mexikanischen Lucha Libre. Dieser akrobatische »Freikampf«, meist von kleinen leichten Männern betrieben, bringt Dynamik ins nordamerikanische Schwergewichtsgeschehen. Das Wrestling kommt zwar vom Ringen, was aber ein eher langweiliger Sport ist, wenn man keine große Ahnung hat. Freistil, Ganzkörpereinsatz, das ist klar, doch im Unterhaltungssport wird auch geschlagen, getreten, gesprungen. »Catchen« hieß man es in Deutschland früher. Mittlerweile kann man auch hierzulande Wrestling aussprechen. Wenn jemand einen Salto rückwärts von einem Eckpfosten macht, nennt sich das poetisch »Moonsault«. Beim »Bear Hug«, für den man besonders groß und stark sein sollte, hebt ein Wrestler den andern in die Luft, zieht seine geschlossenen Arme zusammen, drückt dem Gegner die Luft ab. »Brainbuster« oder »Atomic Drops« kann man hundertfach auf Youtube finden.
Zurück nach Berlin, Germany: Sami wird auf einmal hinterrücks von JD McDonagh überfallen. Der ist mit Dominik Teil von »Judgement Day«, wo alle fies, teils tätowiert, irgendwie Eso-Goths sind. Die »Stable« (Ställe) genannten Gruppierungen befehden andere. Doch, zum Glück (!), Jey Uso eilt Sami zu Hilfe und vermöbelt die Heels. Die Masse rastet aus, die beiden Guten dirigieren den Jubel. Simple Plots werden durch Ansagen vor und nach den Kämpfen entwickelt. So werden Fans vom Kosmos WWE absorbiert, vergessen, dass sie einer akrobatischen Fiktion beiwohnen, um sich in ihre Helden zu fantasieren, in Gedanken Sprünge machen, die sie im Ring nie schaffen, wobei das Merchandise vielleicht gegen die Schwerkraft hilft innerlich. Die fleischgewordene Comic-Welt wird im Fernseher durch pausenlos-ekstatische Kommentatoren fast intensiver als die Stadionerfahrung von den billigen, weit vom Ring entfernten Plätzen.
Alle wissen, die Kämpfe sind gestellt, abgesprochen; Dramaturgie und Choreografie. Wenn sich wirklich mal einer live heftig verletzt, ist das eine Katastrophe. Richtig zu fallen ist das Erste, was man lernen muss. Weil die körperliche Belastung trotzdem schwer auszuhalten ist, greifen viele zu Schmerzmitteln und Drogen. 2007 tötete Chris Benoit erst Frau und Kind, dann sich selbst. Einer der beliebtesten Wrestler seiner Zeit hatte laut Obduktion aufgrund unzähliger Gehirnerschütterungen in seinem Arbeitsalltag mit 40 Jahren das Gehirn eines 85-jährigen Alzheimer-Patienten. Das ist keine hinreichende Erklärung für einen Familienmord, aber dass man jahrzehntelang durch den Ring fliegen kann, wird teuer erkauft.
In der Arena sind nur Backstage-Videos als Hintergrund erlaubt. Der Fan verlangt Humor. Chad Gable ist ein recht kleiner Mann, sein Mitstreiter Otis sehr beleibt. In Berlin begeht Gable ein Sakrileg: Er bekennt in holprigem Deutsch, Fan vom FC Bayern zu sein. Sofort kommen die vom Publikum frenetisch bejubelten drei von »Imperium«: Ein Österreicher namens Gunther, ein Deutscher namens Kaiser und der Italiener Giovanni machen die Amis platt. Die Lederstiefel- und Glatzen- beziehungsweise HJ/Undercutfrisurenträger erzählen zwar nichts von Rasse und Nation, Gunther verspricht aber, sie werden »ihre Knochen so lange zu Markte tragen, bis die Ehre dieses Sports wiederhergestellt ist.«
In den Achtzigern spiegelte die WWE simple Gefühle des Kalten Krieges: Es gab böse Russen und Iraner. »Imperium« sind heute Teil des Wrestling-Karnevals. Geschmacklos? Ja. Harmlos? Vermutlich. Unangenehm ist es trotzdem, wenn tausend Deutsche Gunther dabei anfeuern, Bronson Reed, Australier mit samoanischen Wurzeln, zu verprügeln, unermüdlich skandieren: »Auf die Fresse! Auf die Fresse!« Ein recht diverses Sportspektakel ist Wrestling eh, manche sind inzwischen offen queer. Was zählt, ist Leistung, sich beim Dopen nicht erwischen lassen, die Fiktion durchhalten. Cindy Laupers Freund hatte 1985 Hulk Hogan einen Song geschrieben. Zu »I am a real American/ Fight for the rights of every man/ Fight for what’s right, fight your life« trat er seine Arbeit im Ring an. Die kaschierte Tragik des grellen Spektakels: Gladiatoren mit festen Verträgen und Fan-Shirts landen irgendwann altersschwach im Reality-TV, wo sie immerhin nicht mehr verschlagen werden.
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