Politik nicht nur im Parlament: Ratschlag von unten

Weshalb Gewerkschaften genau wie die Klimabewegung auf Transformations- und Büger*innenräte setzen

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.

Der deutsche Bundestag will sie, die Industriegewerkschaft Metall auch, die Klimabewegung ebenfalls: Bürger*innen- oder Transformationsräte. Wobei sie sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat den verschiedenen Ideen von Räten, die es historisch gab und aktuell gibt, in dieser Woche die Konferenz »Europa den Räten« gewidmet.

»Klar ist: Ohne aktive und direkte Beteiligung der Bevölkerung können die drängenden Probleme unserer Zeit nicht gelöst werden. Gewerkschaften und Kommunen haben die Zeichen der Zeit längst erkannt«, heißt es im Veranstaltungstext. So hat die IG Metall in Rheinland-Pfalz einen Transformationsrat initiiert und in Stuttgart ein Transformationsbündnis.

In diesen Bündnissen kommen neben Gewerkschaftler*innen Vertreter*innen aus Politik, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden zusammen. Es geht um die Weiterentwicklung ihrer Branchen angesichts des Strukturwandels in den Regionen. In Stuttgart werden die Veränderungen in der Automobilindustrie diskutiert und generell eine sozial-ökologische Transformation. Es geht um gesellschaftliche Probleme, die nur durch Partizipation der Betroffenen gelöst werden können und nicht in Parlamenten, so die Grundidee.

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Das scheint das verbindende Element zwischen gewerkschaftlichen Transformations- und gesellschaftlichen Bürger*innenräten zu sein. Letztere befassen sich in der Regel ebenfalls mit Fragen, bei denen die Politik allein nicht weiterkommt. Meist sind es Themen, die hohe gesellschaftliche Relevanz und Transformationspotenzial haben, mit Wertekonflikten verbunden sind und bei denen die Umsetzung entscheidend davon abhängt, inwieweit die Bevölkerung sich mitgenommen fühlt, wie Simon Wehden vom Verein Klimamitbestimmung kürzlich im »nd« erklärte. Beispiele sind Wohnraum, Organspende oder – Thema des aktuell tagenden, vom Bundestag eingesetzen Bürger*innenrates – Ernährung.

Mit dem historischen Räten haben diese allerdings nichts mehr zu tun, auch wenn die Begrifflichkeiten einen möglichen Zusammenhang mit den Räten von 1918 suggerieren. »Wir sehen keine historischen Bezüge zwischen den aktuellen Bürgerräten und den historischen Räten«, sagte Anne Dänner dem »nd«. Sie ist Sprecherin von Mehr Demokratie, einem Verein zur bundesweiten Beratung von Bürger*innenräten.

Sie betont eher die Unterschiede: So haben Bürger*innenräte »keine politische Agenda, wie es bei früheren Arbeiter- oder Soldatenräten der Fall war«. Die Teilnehmenden werden auch nicht gewählt, sondern nach einem aufwendigen Verfahren so ausgelost, dass sie möglichst repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind.

Vorbild für die Bürger*innenräte, die es in den vergangenen Jahren auf Bundes-, Länder- oder kommunaler Ebene gegeben hat – 2022 zum Beispiel die Räte zum Thema Bildung im Bund oder Klima in Berlin – seien eher die Erfahrungen aus Irland. Dort wurden auf Grundlage der Entscheidung eines gelosten Bürger*innenrates Schwangerschaftsabbrüche und die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Allerdings hießen die Gremien dort genau genommen Citizens’ Assembly (Bürgerversammlung). »In Deutschland hätte man an Stelle von Räten also auch von Versammlungen sprechen können«, sagt Dänner.

Der größte Unterschied zwischen den Bürger*innenräten und den historischen Räten ist jedoch, dass letztere in ihrer ursprünglichen Bedeutung ein zur parlamentarischen Demokratie alternatives System darstellten. Bürger*innenräte dagegen »sollen die parlamentarische Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen«, betont Dänner. Es handelt sich dabei nur um beratende Gremien, die Empfehlungen aussprechen können. Inwiefern diese am Ende umgesetzt werden, entscheiden immer noch die Parlamente.

Viele Teile der Klimabewegung sprechen sich für Bürger*innenräte aus, unter anderem Extinction Rebellion (XR), weil sie sich davon unabhängigere und progressivere Entscheidungen für mehr Klimaschutz erhoffen. Bislang sei Klimaschutz kaum durchzusetzen, wenn er »den Profitinteressen mächtiger Akteure widerspricht. Treibhausgasintensive Industrien bremsen eine vernünftige Klimapolitik immer wieder aus«, erklärt XR dazu. Echter Wandel müsse »von unten, aus einer informierten und mutigen Zivilgesellschaft« kommen.

Die Letzte Generation geht noch einen Schritt weiter: Sie fordert einen Gesellschaftsrat zu der Frage, wie Deutschland die Nutzung fossiler Rohstoffe bis 2030 sozial gerecht beenden sollte. Dieser unterschiede sich von bisherigen Bürgerräten dadurch, dass die Regierung öffentlich zusagen sollte, die mit den Empfehlungen des Rates verbundenen Gesetzesvorhaben ins Parlament einzubringen und sich für eine schnelle Umsetzung einzusetzen.

Auch wenn es zwischen den bereits angewendeten und geforderten Konzepten der verschiedenen Gruppen große Unterschiede gibt – gemeinsam haben sie die Vorstellung, dass Politik nicht alleinige Sache der Parlamente ist.

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