Verdrängung in Berlin: Tischleria statt Schickeria

Handwerk findet in Berlin kaum noch Gewerbefläche, doch zwei Tischlerinnen und ihre Genossenschaft geben nicht auf

  • Günter Piening
  • Lesedauer: 6 Min.
Für nachhaltige Handwerker*innen wie Christina Pech und Jule Kürschner von der Tischleria sind passende und erschwingliche Räume in Berlin existenziell knapp.
Für nachhaltige Handwerker*innen wie Christina Pech und Jule Kürschner von der Tischleria sind passende und erschwingliche Räume in Berlin existenziell knapp.

Lankwitz, Haynauer Straße 67 a, eine unscheinbare Industriehalle hinter dem Poco-Parkplatz, an einer Tür ein kleines Schild: Tischleria. Drinnen bauen zwei Frauen eine Holzverkleidung in einen Türrahmen, und in der großen Werkhalle werden die letzten Leuchten angeschlossen. Doch 1,2 Millionen Schrauben sind bereits sortiert, die vier Hobelbänke haben ihren Platz gefunden, Hunderte Meter Starkstromleitungen sind verlegt und halten den Maschinenpark und die gewaltige Lüftungsanlage am Laufen. »Wir sind angekommen«, heißt es auf der Webseite der Tischleria.

Bis dahin war es ein steiniger, kräftezehrender Weg. 2004 beschlossen die Tischlerinnen Jule Kürschner und Christina Pech, einen eigenen Betrieb zu gründen, die Tischleria in Neukölln. Kürschner: »Wir wollen nachhaltig arbeiten und was Nützliches für die Gesellschaft leisten. Das heißt für uns, nicht nur hochwertige Möbel zu bauen, sondern auch den kaputten Stuhl zu reparieren oder ein Türschloss auszuwechseln.« Das Konzept ging auf, aus der Tischleria wurde ein kleiner Betrieb mit zwei Meisterinnen, vier Gesellinnen und zwei Auszubildenden.

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Mit der ersten Kündigung im Jahr 2016 spürte auch die Tischleria den zunehmenden Druck auf dem Immobilienmarkt. Nach monatelanger Suche fanden die Handwerkerinnen Räume in einem Gewerbehof in Charlottenburg, doch statt drei Euro pro Quadratmeter waren nun sechs Euro zu erwirtschaften. Sechs Jahre später folgte der nächste Schlag: eine Kündigung zum April 2023. Es begann ein zermürbendes Jahr zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Mal war eine Halle unbeheizt und zu teuer, mal zu weit draußen und zu teuer, mal passte zwar die Miete, aber die Maschinen nicht durch die Eingangstür. Kürschners ernüchterndes Fazit: »In Berlin gibt es praktisch keinen Platz mehr für kreatives Handwerk.«

Der Markt für Gewerbeflächen in der Innenstadt ist voll im Griff der Immobilienfonds, die im hochpreisigen Segment ihre Rendite sichern. Große Flächen gibt es kaum noch, sie werden aufgeteilt in lukrative Büros oder Räumchen für Hightech-Start-ups. Und die Mieten liegen inzwischen bei 15 bis 20 Euro pro Quadratmeter. Das bringt Handwerksbetriebe schnell an ihre Grenzen. Maximal acht Euro könnten sie zahlen, antworteten mehr als die Hälfte der Betriebe in einer Umfrage der Handwerkskammer von 2019, sonst müssten sie das Handtuch werfen. Auch Berlins größter Gewerbevermieter, die GSG, bis 2003 landeseigen als Gewerbesiedlungs-Gesellschaft und inzwischen mehrheitlich im Besitz der Luxemburger CPI Property Group, verfügt in der Innenstadt über viele schicke Gewerbehöfe in alten Industriepalästen. Im Angebot sind Büroräume und Lofts für Start-ups. Auf der Strecke bleiben Künstler*innen, soziale Projekte und Handwerker*innen, erst recht, wenn sie, wie die Tischleria, Platz für Maschinenpark und Lager brauchen.

»Es ist ein täglicher Kampf gegen die Auflösung der traditionellen Berliner Mischung zugunsten von Lofts und Büroflächen, die den Produktiven keinen bezahlbaren Raum mehr bieten«, fasst Frieder Rock die Lage zusammen. Rock ist Mitbegründer und Prokurist der Genossenschaft Eine für Alle eG. 2019 gegründet als Trägerin für ein Fabrikgebäude in der Urbanstraße, wurde sie schnell Anlaufstelle für die aus Fabriketagen und Hinterhöfen verdrängten Kunstschaffenden und Handwerker*innen. Rocks Mission: Rettung der letzten Räume und Entwicklung neuer Standorte. Die Genossenschaft berät Projekte, stellt Finanzpläne auf, begleitet Verhandlungen mit Banken, Senatsverwaltungen und Verkäufern, entwickelt die Standorte gemeinsam mit den dort Arbeitenden. Und sie organisiert Unterstützungskampagnen. Rock: »Ohne die Menschen, die ein Privatdarlehen geben oder als investierende Mitglieder ohne Stimmrecht Genossenschaftsanteile erwerben, käme keines der Projekte auf erträgliche Mieten.«

Die Nachfrage ist gewaltig. »Fast wöchentlich gehen bei uns Anfragen von verzweifelten Künstler*innen oder Handwerker*innen ein, die ihre Räume in der Innenstadt verlieren. Doch nur die wenigsten können wir berücksichtigen.« Das bisher größte Projekt sind die Wohn- und Gewerbehäuser in der Lausitzer Straße 10 und 11. Als deren 180 Bewohner*innen nach jahrelangem Kampf im vergangenen Jahr den einschlägig bekannten Investor Jørn Tækker so weichgekocht hatten, dass er mit dem Kaufpreis runterging und sie die Gebäude übernehmen konnten, wurden sie Mitglied bei der Eine für Alle eG. Die Lausistas sagen rückblickend: »Die Gründung einer Genossenschaft war für uns die beste Möglichkeit, das Haus dem Markt langfristig zu entziehen und eine Rechtsform zu haben, die unseren Vorstellungen von basisdemokratischen Entscheidungs- und Aushandlungsprozessen am nächsten kommt.«

Zehn Standorte betreut die Eine-für-Alle-Genossenschaft derzeit. Und inzwischen gehört auch der »Handwerkerhof Klavierfabrik Lankwitz« dazu. So nennt sich der Zusammenschluss von Ateliers und Betrieben, die ebenfalls raumlos gemacht wurden und nun mit der Tischleria in die alte Klavierfabrik einziehen. Als Mitglied der Eine für Alle eG werden sie den Standort gemeinsam verwalten und weiterentwickeln.

Nach Abschluss des Vorvertrages und einer Vereinbarung über die vorzeitige Zwischennutzung machten sich im Mai drei Sattelschlepper, beladen mit 80 Tonnen Maschinen der Tischleria, auf den Weg nach Lankwitz – und mussten umkehren. Die vorgesehene Halle war nicht rechtzeitig freigeräumt worden. Kurzfristig musste eine Einlagerungsmöglichkeit gefunden werden, bis der Umzug im Juli endlich klappte und am 28. September der Kaufvertrag unterschrieben werden konnte.

»Uns reicht’s jetzt aber!« Bei aller Erleichterung schwingt ein Stück Wut mit, wenn Jule Kürschner und Christina Pech an die letzten beiden Jahre denken. 40 000 Euro für den Umzug, drei Monate ohne Einkommen, aber mit weiter zu zahlenden Fixkosten, das Wechselbad von Hoffen und Bangen, immer wieder aufstehen und weitermachen – das hat alles Kraft gekostet. Zu wissen, dass »wir eine Infrastruktur erhalten, die Berlin bitter nötig hat«, wie Kürschner sagt, ist das eine – die kräftezehrende Realität auszuhalten, das andere.

Geblieben ist die Sorge, dass es im letzten Moment doch noch scheitern könnte. Bis zum 23. Dezember muss der Kaufpreis von 2,5 Millionen Euro auf dem Tisch liegen. Zwar sind die Bankkredite gesichert, doch der notwendige Eigenkapitalanteil von 500 000 Euro ist noch nicht zusammen. Die Genossinnen selbst sind mit den Kosten für den Umzug und der Finanzierung der Genossenschaftsanteile bis an ihre Belastungsgrenze gegangen. Darum haben die Tischleria und die Eine für Alle eG eine Solidaritätskampagne gestartet, um private Darlehen und »investierende Mitglieder« zu gewinnen.

Trotz dieser letzten Unwägbarkeit: In der alten Klavierfabrik May ist wieder Maschinenlärm zu hören. Das hat sich auch in der Nachbarschaft herumgesprochen. Mal kommt jemand mit einem Brett vorbei, das gehobelt werden soll, mal ist es ein kaputtes Stuhlbein, das geleimt werden muss. Kürschner betont: »Daran verdienen wir natürlich nichts. Aber wie wird Berlin aussehen, wenn es all das nicht mehr gibt, wenn alles in diesem Haifischbecken der Spekulation landet und die Innenstadt nur noch für Büros und teure Start-ups bezahlbar ist? Dann werden wir die Stadt nicht mehr wiedererkennen.«

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