Israel und Gaza: Links, wo (auch!) das Herz ist

Elend in Israel: Radikalisierung (Kermani), Staatsräson (Gysi) und offene Nervenenden (Brecht)

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Ruhe bewahren, auf das Wesentliche konzentrieren: Wann springen endlich alle über ihre Front-Gräben?
Ruhe bewahren, auf das Wesentliche konzentrieren: Wann springen endlich alle über ihre Front-Gräben?

Zu jeder Moral, zu jeder Vernunft gehören politgesteuerte Momente, vor denen man sich fürchten muss. Weil sie unsere Fähigkeit zur Fassungslosigkeit gefährden. Zum Beispiel wirken im elenden Widerspruchsfeld des Nahen Ostens die Fingerzeige manch eifriger Dialektiker wie seelentote Belehrungs-Zeigefinger. Sie zeigen wie Speere auf Israel. Aber muss es im Blick aufs Leid nicht auch mal ohne jede Dialektik gehen? Ohne jenen klugen linken Über(hebungs)blick, dieses temperaturdimmende Sowohl-als-auch?

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse – links, liberal, europäisch – schrieb vor nahezu 20 Jahren zum Krieg gegen die Hisbollah: Israel müsse diesen Krieg führen und gewinnen, weil es um die »schiere Existenz« gehe. »Jetzt sitze ich vor dem Fernseher, will Bomben sehen, noch mehr Bomben, so viele Bomben, bis die Hisbollah ausradiert ist und alle Vernichter vernichtet sind. Ich will aber keine Bomben sehen. Ich hasse mich dafür, weil ich diese Bomben sehen will.«

Jetzt ein Votum für Israel? Ohne Einschränkung? Wenn es stimmt, dass Vergangenheit zu Teilen unsteuerbar und vor allem sehr lange in die Gegenwart ragt, so muss man, wenn man aus der DDR kommt, schlichtweg gestehen: Dort war Israel, dachte man staatlich, nie Freundesland. Zu erwachter Neugier und gewonnenem Freiheitsgefühl nach 1989 gehörte dann die Chance, sich frühere ideologische Dogmen aus Geist und Gefühl zu nehmen, oder gar: sie sich herauszureißen – ja, es gibt einen schönen Extremismus der politischen Korrektur, es gibt eine heilsame Obsession des Widerrufs. So, wie es den Blitz der Erleuchtung gibt, so gibt es den Blitz der Einkehr. Gregor Gysi benannte jüngst im »Spiegel«, was damals diese Einkehr beförderte: nämlich eine wichtige menschliche Anschubenergie – »ein schlechtes Gewissen«.

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Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Alles Palästinensische – ebenfalls eine Leidgeschichte – erfuhr im DDR-Osten umfassende und berechtigte Solidarität. Aber dieser Klassenstandpunkt verweigerte sich entschieden jener politischen (und bewaffneten!) Nervosität, die den Staat Israel aus bekannten historischen Gründen und bitterlich oft überfiel. Rechne doch niemand, selber wohllebend auf den Bizeps der ihm gnädigen Moderne, just das klein, was diesem Volk widerfuhr. Es gehört zur geopolitischen Tragik, dass militärischer Rigorismus just jenem Staat nicht erspart blieb und bleibt, der im Nahen Osten als einzige bürgerlich-demokratische Insel in feindlicher Landschaft klemmt.

Jener oft rotierende Satz, Kritik an Israels militanter Politik sei doch, bitteschön! und verdammt!, kein Antisemitismus – er hat recht, dieser Satz; aber in linker deutscher Gegend ist es auch ein Satz, von dem man bisweilen noch immer das Gefühl hat, er komme aus der Kühle einer bloß formalen, taktischen Absicherung. Eine halbherzig hervorgeknirschte Konsensformel?

Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani sieht in einem Aufsatz in der »Zeit« sehr genau das politische Elend in Israel: dass nämlich ausgerechnet »jene Kräfte, die seinerzeit den Mord an Premierminister Izchak Rabin gefeiert haben, am Kabinettstisch sitzen«. Kermani selbst hat die palästinensische Verzweiflung und »spiegelbildliche Radikalisierung« oft genug und mitfühlend öffentlich artikuliert. Jetzt aber fällt es ihm schwer, Israels walzenden Militäreinsatz zu kritisieren; die Palästina-Bewegung auf deutschen Straßen nennt er »so dumpf, so einseitig und teils eben auch antisemitisch«. Offen flammend oder getarnt. Dass die bitteren Bilder der Zerstörung und der Flucht im Gazastreifen uns medial bedrängen, so mutmaßt Kermani, sei wohl (auch!) Teil des Hamas-Plans – diese Bilder sollen »weltweit die Öffentlichkeit gegen Israel mobilisieren, und genau dieser Plan geht auf«.

Der linke Diskurs setzt sich derzeit, wie so oft, Verdächtigungen aus: Einordnungsmühen, aber leider kein Schnappen nach Luft, also: kein Herz! Wie vor geraumer Zeit bei der Bundeswehr-Hilfe für Gefährdete aus Afghanistan. Prinzipienreiterei, Kälte. Keine Trauer, kein Gefühl fürs Innehalten. Und also auch jetzt keine Entschiedenheit: Die Hamas muss vernichtet werden. Deshalb, so Kermani, »klingt die Israel-Kritik seit dem 7. Oktober so falsch, selbst wo sie richtig ist«. Es sei, als wiederhole sich etwas. Weil es so tief sitzt?

Links: Selten war da ein Empfinden für die latenten Bedrängungen Israels als einsame Raum-Zeit-Kapsel zwischen Wüste und Meer. Nie wirklich verinnerlicht wurden jene Befürchtungen, dass Jüdinnen und Juden wieder Gejagte werden könnten. Lange nach unserer gesellschaftlichen Wende ins Offene 1989 stand im »nd« ein ganzseitiges Interview mit einer Familienmutter aus Israel. Eine Jüdin, als Kind aus Hitlerdeutschland geflohen, eine entschiedene Kopfschüttlerin über palästinensisches Leid, über extremistische Siedler, über Reaktionäre wie Scharon, Netanjahu und Co. Ein Gespräch über den Alltag, also auch: unverstellte Auskünfte über Ängste vor arabischen Übergriffen ringsum. Übersteigerte Ängste? Reale Ängste.

Aus diesem Interview sprach das alltägliche Israel. Es folgten Protestbriefe en gros, sogar eine Resolution, vielstimmig unterschrieben, erreichte die nd-Redaktion: Diese israelische Stimme gehöre nicht in eine sozialistische Zeitung! Es regte sich in der Leserschaft jene drohende Druckwelle einer eisernen Gesinnung: immer mit geschwollener Kampfader.

Dann Linkspolitiker Bodo Ramelow vor Jahren sarkastisch deutlich: Er kenne Genossen, die Israel »unter Vorspiegelung eines internationalistischen Fähnchens« am liebsten negieren würden. Und einigen Linken muss es schwer erträglich gewesen sein, als Gregor Gysi in einer Rede sagte: Die Linke müsse sich damit befassen, »was Staatsräson in unserer Demokratie im Einzelnen bedeutet«. Die Haltung zu Israel ist – Staatsräson. Gysi: »Schon allein der Umstand, dass dieser Begriff von vielen dem Spektrum konservativen Staatsdenkens zugeordnet wird, deutet darauf, dass hier etwas unterschätzt wird, das eben nicht einfach eine konservative Marotte ist.«

Auch damals hagelte es Widerspruch aus den eigenen Reihen. Staatsräson! Für viele Linke ein Verhaltenskodex, der den kritischen Geist knebelt. Dem deutschen Staat hat man wehzutun, Punkt. Nun muss man dieser Räson, einer Machiavelli-Idee, wahrlich nicht nahe sein. Aber man kann doch – guten Willens – erfühlen wollen, was Gysi bezweckte: diesen für links problematischen Begriff ins Umgangssprachliche eines inneren Einverständnisses zu lenken, um just in der Frage Israel und Antisemitismus absolut unmissverständlich zu sein.

Ja, auch Antisemitismus. Der Dichter Stephan Hermlin sinnierte 1991 in einem Interview: »Was nur habe ich an mir? Was wirkt auf bestimmte Leute so unangenehm? Ich habe eine Vermutung, eine etwas unheimliche Vermutung allerdings.« Der Interviewer: »Antisemitismus?« Hermlin: »Ja.« Er dachte zurück: Otto Gotsche, ein antifaschistischer Widerstandskampfer, habe zu Hermann Kant gesagt, die Geschichte der Abweichungen in der Partei sei eine Geschichte der Juden in der Partei …

Navid Kermani geht im erwähnten »Zeit«-Essay auf die »vielen klugen Sätze« in Robert Habecks kürzlicher Video-Rede zu Israel ein. Aber »politisch fatal« sei dieser eine Satz des Vizekanzlers: »Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden.« Doch!, sagt Kermani entschieden, doch! Denn Verteidigung müsse zugleich Offensive sein: zur schmerzhaft fälligen Lösung des Nahost-Konflikts.

Schriftstellers Einspruch erinnert an Joe Bidens kürzliche Warnung, bei der Bekämpfung der Hamas nicht jene Fehler zu wiederholen, die US-Amerika nach dem 11. September 2001 beging. Philosoph Peter Sloterdijk sprach nach Nine Eleven von Bushs politischem Verbrechen, weltweit »furchtpolitisch misshandelte« Bevölkerungen erzeugt zu haben. Krieg gegen den Terror? Aller Welt wurden nach dem Sturz der New Yorker Türme militärische und geheimdienstliche Gerechtigkeitsaktionen geradezu eingeredet – die aber in Wahrheit grassierender »US-Staatsterrorismus« waren. Ohne den hätte es keine Folter in Abu Ghraib und Guantanamo gegeben, kein Wikileaks, keinen Julian Assange, keine Chelsea Manning, keinen Edward Snowden.

Und der 12. September 2001 schüttete eine utopische Idee zu: dass sich im Taumel einer unfassbar peinigenden Verletzbarkeit die Weltmächtigen endlich für die Ursachen jenes Hasses interessieren würden, der sich immer wieder einen barbarisch-terroristischen Ausdruck sucht. Also: Endlich her mit einem welt-runden Tisch! Gerichtsbarkeit endlich jenseits aller Rache! Plötzlich sprängen alle über Schatten und Frontgräben? Nein, aller Nerven lagen wohl zu blank.

Auch jetzt, im Gazastreifen, liegen Nerven blank. Bertolt Brecht schrieb, dass die Ruhe der Nerven nicht immer gut sei für das Denken. »Es gibt/ auch eine vorteilhafte/ Ausnützung der Verwirrung/ der eigenen Nerven.« Hoffen wir also weiter. Trotz allem. Israel möge seine Symbolkraft verlieren: bebend, blutend zu stehen für jenes Älteste und Akuteste – das Nicht-heil-werden-Können der Welt.

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