Film »Vienna Calling«: Könige der Nacht

Regisseur Philipp Jedicke setzt in der Musical-Doku »Vienna Calling« der Wiener-Subkultur ein Denkmal

Die Geschwister Esra und Enes Özmen kommen aus dem Arbeiterviertel Ottakring und brechen mit Klischees: Sie rappt die harten Reime, er singt die Vocals.
Die Geschwister Esra und Enes Özmen kommen aus dem Arbeiterviertel Ottakring und brechen mit Klischees: Sie rappt die harten Reime, er singt die Vocals.

Im Jahr 1986 hielt Elfriede Jelinek eine Rede, da wurde ihr justament der Heinrich-Böll-Preis verliehen. In dieser Rede geht es um die Kunst und um Österreich. Natürlich kommt Österreich darin nicht gut weg. An einer Stelle heißt es: »Denn in Österreich wird kritischen Künstlern die Emigration nicht nur empfohlen, sie werden auch tatsächlich vertrieben, da sind wir gründlich.« Es folgt eine Aufzählung geschmähter österreichischer Künstler*innen: Rühm, Wiener, Brus und Canetti, bei dem man sich nie die Mühe gemacht hatte, ihn aus dem Exil in London zurück zu holen. Was Österreich hingegen gut kann: hübsch aussehen, Fremdenbetten auf- und wieder abziehen, Opportunismus.

Knapp 30 Jahre später hat sich das Verhältnis der Kunstszene zu Österreich nicht wirklich gebessert. Die Autorin Stefanie Sargnagel schrieb 2018 für die »Faz«: »Österreich war immer schon ein außergewöhnlich chauvinistisches Bauerndorf.« So klang das auch bei Jelinek. Meister dieser Klasse war und ist aber sowieso Thomas Bernhard, der über Wien sagte, es sei eine einzige »stumpfsinnige Niedertracht«.

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Vielleicht sehen die Dinge anders aus, wenn man sie aus der Ferne betrachtet, dachte sich der deutsche Journalist und Filmemacher Philipp Jedicke, als er sich vor acht Jahren aufmachte, um den grassierenden Österreich- und im Speziellen dem Wien-Hype in der Popkultur nachzuspüren. Die Band Wanda hatte gerade ihr Debütalbum »Bussi« herausgebracht und die Piefkes aus Deutschland fanden kein Halten mehr in ihrer Austria-Euphorie. Aber warum is des ois so leiwand da drüben? Jedicke machte sich auf die Suche und fand für seinen Dokumentarfilm »Vienna Calling« einen grandiosen Zirkus aus Künstler*innen, die er über Jahre begleitete. Ihr Verhältnis zu Österreich ist gar nicht unbedingt Thema dieses Films, aber trotzdem kann man besser verstehen, was diese Menschen antreibt, wenn man im Hinterkopf behält, dass es sich bei Österreich und seinen Künstler*innen um eine Hassliebe handelt, die wohl nur dort entsteht, wo Freigeister auf eine Leitkultur knallen, die gemacht ist aus Kaffeetassen-Deckchen mit Prägedekor. Im Gegensatz zum Kaffeehaus-Touri-Schick ist ihr natürliches Habitat das verrauchte Beisel wie das Schmauswaberl, Brachflächen oder auch die Kanalisation.

Die Künstlerin Stefanie Sargnagel schrieb im oben bereits erwähnten Artikel auch diesen Satz über ihre Freund*innen: »Mein Umfeld ist schwul, lesbisch, arbeitslos, depressiv, exzentrisch, tagträumerisch und feministisch. Viele funktionieren nicht richtig und beziehen Mindestsicherung.« Und damit charakterisiert sie treffsicher die Protagonist*innen dieser schrägen Musical-Doku, in der sie selbst auch einen kurzen Auftritt hat.

Und dann sitzt da zum Beispiel in einer Szene Der Nino aus Wien (Nino Mandl), ein nicht nur in Österreich bekannter Singer-Songwriter, und sagt: »Für einen normalen Job bin ich viel zu faul. Ich kann nur singen.« Jedicke begleitet auch den wohl bekanntesten Protagonisten der Doku, Voodoo Jürgens (den in Tulln an der Donau geborenen David Öllerer), auf einen Friedhof, auf dem er früher als Friedhofsgärtner gearbeitet hat oder den Rapper Enes Özmen (zusammen mit seiner Schwester sind die beiden das Hip-Hop-Duo EsRAP), den Jedicke dabei filmt, wie er hauptberuflich Leihfahrräder mit dem Transporter einsammelt und davon erzählt, wie ihm mal ein Geschäftsmann 300 Euro Trinkgeld in seinem zweiten Job als Rikschafahrer gab, mit denen er am nächsten Tag seine Studiengebühren bezahlen konnte.

Damit wäre dann auch der zurechnungsfähige Teil des Films erzählt. Aber das wirklich Unterhaltsame an dieser Schnüffelei in Österreichs Underground sind die Momente, in denen die Künstler*innen die Kamera für ihre eigene Performance nutzen. Die beste Szene haben wohl Der Nino aus Wien und Voodoo Jürgens. Während Voodoo ein Porträt von Nino malt, kommt es zu diesem denkwürdigen Dialog: Voodoo: »Wie viele Liegestütze schaffst du?« Nino: »Vier. Morgen hör’ ich komplett mit’m Rauchen auf! Und dann beginn’ ich mit einfachen Sachen wie Kniebeugen.« Beide rauchen und trinken dabei lakonisch vor sich hin. In der nächsten Szene sitzt Nino beim Friseur Erich Joham, einst Starcoiffeur von Falco, und der verpasst dem Sänger eine Eins-A-Topffrisur. »Das wächst eh wieder nach«, sagt Joham und erzählt, dass der Falco immer gesagt hätte: »Ich nehm’ das Leben nicht so ernst.«

Jedicke versammelt in »Vienna Calling« die Shabby-Bohéme der Wiener Kunstszene neben den genannten noch den Gutlauninger (aka Nikolaus Vuckovic), eine Falco-Reminiszenz im Glitzeranzug oder Samu Casata, der wohl Schrulligste von allen. Er organisiert in Wien die schrillsten Raves (auch mal in der Kanalisation), verdient sich Geld mit dem Scheren von Schafen dazu, deren Felle er sich ins Badezimmer hängt, damit es dort immer »so schön nach Schafstall riecht« und modelt. Jedicke rollt diesen herrlich bekloppten Nachtgestalten, die genau dann am meisten schillern, wenn es finster wird, den Roten Teppich aus, und das ist extrem unterhaltsam, weil hier Figuren auftreten, die mit allem Irdischen eigentlich nichts zu tun haben wollen, weil ihnen genau da mit Sicherheit keine Flügel wachsen.

»Vienna Calling«, Deutschland/Österreich 2023, Regie und Buch: Philipp Jedicke. 85 Minuten, Start: 16.11.

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