Linke-Politiker Trabert: EU-Asylpolitik ist eine Katastrophe

Gerhard Trabert zu seinem jüngsten Hilfseinsatz in Kenia, zur sozialen Not in Deutschland und warum es ihn ins EU-Parlament zieht

Gerhard Trabert bei seinem jüngsten Hilfseinsatz in Kisumu (Kenia) im November 2023
Gerhard Trabert bei seinem jüngsten Hilfseinsatz in Kisumu (Kenia) im November 2023

Sie sind gerade von einem Hilfseinsatz aus Kenia zurückgekehrt. Worum ging es?

Wir haben schon seit über zehn Jahren mit einer kenianischen Hilfsorganisation ein Projekt, bei dem es um die Hilfe für Straßenkinder in Kisumu geht. Auch nach meinem jüngsten Einsatz muss ich sagen: Die Situation dieser Kinder ist erschütternd. Wir haben in Kisumu ein Arztmobil finanziert – ein solches Projekt habe ich ja auch in Mainz initiiert –, und mit dem war ich unterwegs und habe die Kinder auf der Straße behandelt. Dabei hatten wir das gesamte medizinische Spektrum, von Entzündungen, Hautdefekten bis zu sehr schweren Herzerkrankungen, die eigentlich dringend operiert werden müssen. Ich habe Evelyn kennengelernt, eine junge Frau, die an Lepra erkrankt war. Und in der Nachtsprechstunde für wohnungslose junge Frauen, die sich aufgrund ihrer Notsituation häufig prostituieren, habe ich praktisch bei jeder einen Infekt im Intimbereich behandeln müssen.

Wie groß ist das Problem der Straßenkinder in Kenia?

Aus eigenem Erleben kann ich da natürlich nur von Kisumu sprechen. Und dort ist es sehr groß. Viele der auf der Straße lebenden Kinder haben zu Hause Gewalterfahrungen gemacht und sind weggelaufen, oder die Familien waren überfordert und haben die Kinder einfach ausgesetzt. Oftmals konsumieren sie eine Droge, die aus einer Mischung von Lösungsmitteln und Klebstoff besteht, um sich zu betäuben. Das Tragische daran ist, dass diese Stoffe neurotoxisch sind und die Kids, wenn sie das fünf, sechs, sieben Jahre konsumieren, quasi dement werden.

Als Arzt können Sie nur die medizinischen Symptome bekämpfen, aber nicht die sozialen Ursachen für das Leid der Straßenkinder beheben.

Das ist natürlich immer das große Dilemma. Ob in Kenia oder in Deutschland: Häufig ist es erst einmal die individuelle Hilfe, die im Vordergrund steht. Es gibt praktisch zwei Bereiche, die nebeneinander stehen. Der eine ist die genannte individuelle Hilfe, übrigens auch der Bereich, aus dem ich persönlich am meisten Kraft schöpfe. Es ist sinnvoll und notwendig, jedem Menschen, der diese Hilfe benötigt, auch zu helfen. Das ist für mich auch selbst sehr erfüllend. Aber natürlich haben Sie recht, daneben geht es darum, politisch aktiv zu sein, Strukturen offenzulegen und zu verändern, die zu Armut und Ausgrenzung führen. Das ist eben der zweite Bereich. Als ich jetzt in Kenia war, gab es Zeitungsberichte über unseren Hilfseinsatz und auch einen Bericht im kenianischen Fernsehen. Und dabei kam fast immer die Frage: Euer Präsident und euer Regierungschef waren doch gerade in Afrika unterwegs, was sagen die denn zu der Situation auf unserem Kontinent?

Was haben Sie geantwortet?

Ich konnte selbstverständlich nicht für Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier sprechen. Aber ich habe meine Position vorgebracht und gesagt, dass es in Afrika ganz andere Strukturen der Unterstützung geben muss, die langfristiger und umfassender ansetzen und die die Ursachen der Armut zumindest lindern. Und dass eben auch viel mehr präventiv gearbeitet werden muss, um es möglichst gar nicht erst zu einer solch dramatischen Situation wie jener der Straßenkinder kommen zu lassen. Beispielsweise durch einen Ausbau der staatlichen und kommunalen Hilfsangebote. Also ich versuche, das Konkret-Praktische mit dem politisch-strukturell Engagierten und dem Infragestellen des Bestehenden immer parallel zu verfolgen. In diesem Kontext muss natürlich auch gesagt und betont werden, dass der Reichtum Europas sehr viel mit der kolonialen Ausbeutung des afrikanischen Kontinentes zu tun hat. Und das vieles von diesem Unrecht bis heute anhält! Denn natürlich stimmt das: »Nur« die individuelle Hilfe, so bedeutsam sie auch ist, wird an der Situation wenig ändern. Wir müssen Strukturen verändern. So darf es beispielsweise keine Wohnungslosigkeit geben, weder in Kenia noch im reichen Deutschland oder Europa.

Sie engagieren sich seit vielen Jahren für Menschen in Armut, die auch gesundheitlich darunter leiden, und haben den Verein Armut und Gesundheit gegründet. Wie groß ist das Problem der Armut in Deutschland? Armut ist sicher mehr als Obdachlosigkeit, der man auch in deutschen Städten begegnet.

Wir wissen, dass jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut lebt, 43 Prozent aller Alleinerziehenden – und in 88 Prozent der Fälle sind das Frauen – leben in Armut. Auch die Altersarmut nimmt dramatisch zu, über 18 Prozent der Rentnerinnen und Rentner gelten als arm. Das sind alles Entwicklungen, die mit einem Versagen der Politik zu tun haben. Um es ganz deutlich zu sagen: Armut wird produziert. Und zwar durch ungerechte Verteilungsstrukturen, durch fehlende Unterstützungsstrukturen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sagt, dass in der Bundesrepublik fast 14 Prozent der Menschen von Armut betroffen sind. Also Armut entsprechend der EU-Definition, die dafür ein Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung ansetzt. Das sind doch erschreckende Zahlen, das darf es doch nicht in so einem reichen Land geben! Dabei ist es mir immer wichtig zu betonen, dass Armut etwas mit Reichtum zu tun hat. Das heißt, dass hierzulande vieles absolut falsch verteilt wird. Und es hat nichts mit einer Neiddiskussion zu tun, wenn man eine Vermögenssteuer, eine Einkommenssteuer, eine gerechte Erbschaftssteuer, eine Übergewinnsteuer und all das einfordert. Das hat etwas mit sozialer Verantwortung, mit Gerechtigkeit zu tun.

Nicht nur Armut ist in Deutschland mit einem Stigma behaftet, sondern auch, über nur ein sehr geringes Einkommen zu verfügen oder Grundsicherung zu beziehen.

Das ist eine Erfahrung, die ich schon seit vielen Jahren mache: Es ist für viele Menschen mit Scham verbunden, arm oder von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen zu sein. Und diese Scham wird auch noch verstärkt, weil die Politik Vorurteile gegenüber Menschen ohne oder mit nur geringem Einkommen fördert. Ich habe da immer die Begründung von der damaligen Sozialministerin Frau von der Leyen im Ohr, warum die Leistungen des Bildungspakets, das ja Kinder aus sozial benachteiligten Familien unterstützen soll, nicht mit der Grundsicherung ausgezahlt werden, sondern extra beantragt werden müssen: Weil das Geld ja sonst von den Eltern vertrunken oder in Pauschalreisen investiert würde. Das ist eine bösartige Unterstellung, die mich unheimlich wütend macht. Oder wenn von CDU-Chef Merz völlig aus der Luft gegriffen behauptet wird, Asylsuchende und Migranten würden sich »auf unsere Kosten« die Zähne sanieren lassen. So werden Menschen diskriminiert und stigmatisiert – da läuft etwas katastrophal falsch in unserer Gesellschaft. Das ist so etwas wie Sozialrassismus, den es nicht geben darf.

Armut ist aber nicht immer offensichtlich.

Nein. Wir sehen in unserer Poliklinik gar nicht selten Menschen, bei denen man das nicht erwartet hätte. Das ist der Privatversicherte, der durch eine Insolvenz nicht mehr seine Beiträge zahlen kann. Und die Krankenversicherung ihn nicht darüber informiert, dass es Möglichkeiten gibt, den Beitrag zu senken. Das ist der EU-Bürger, der in Deutschland ist, um Arbeit zu suchen. Findet er keine, hat er kein sozialversicherungsrechtliches Arbeitsverhältnis, dann hat er auch keinen Anspruch auf eine medizinische Versorgung. Das sind die Bezieher von Bürgergeld, die, weil sie über 18 sind, keine Brillen mehr von der Krankenkasse finanziert bekommen. Es sei denn, sie sind schwerst sehbehindert. Was ist das für ein Quatsch? Also der Mann oder die Frau sieht schlecht, stolpert, bricht sich das Bein – das übernimmt dann die Krankenversicherung. Aber vorher den Menschen mit wenig Einkommen eine Brille – es geht ja nicht um eine Luxusmarke – zu bezahlen, geht nicht. Und auch was den Zahnstatus angeht: Zahnerhaltende Interventionen sind häufig mit einer Eigenbeteiligung verbunden. Das können sich viele nicht mehr leisten. Die Folge: Mittlerweile ist Krankheit der dritthäufigste Grund in Deutschland für eine Verschuldung! Die Charité in Berlin hat unter onkologischen Patienten eine Umfrage durchgeführt: Wovor haben Sie am meisten Angst? Es waren nicht der Tod oder das Sterben. Es war die Angst vor sozialem Abstieg.

Umgekehrt gilt aber auch: Wer arm ist, ist häufiger krank.

Wir wissen, wenn man das reichste Viertel der Bevölkerung mit dem ärmsten vergleicht, dass arme Frauen über vier Jahre früher versterben. Bei armen Männern sind es sogar fast zehn Jahre. Also Armut bei uns bedeutet, früher krank zu sein, früher an chronischen Erkrankungen zu leiden und auch früher zu sterben. Das ist doch so ein absoluter Skandal, und zwar europaweit. Die Situation ist ja in anderen europäischen Ländern zum Teil noch extremer, weil wir, bei all meiner Kritik, doch schon ein relativ gutes Gesundheitssystem haben. Was aber nicht mehr alle eigentlich notwendigen Maßnahmen abdeckt und alle Menschen erreicht.

Stichwort Europa. Sie gehören selbst zu dem Spitzenquartett der Linkspartei für die Europawahlen 2024. Im sogenannten Bundesausschuss, der einen Listenvorschlag für den Europaparteitag kommendes Wochenende vorlegte, haben Sie mit knapp 89 Prozent im September die höchste Zustimmung erzielt. Hat Sie das überrascht?

Ein bisschen überrascht war ich schon, aber natürlich hat mir diese hohe Zustimmung auch gezeigt, dass wir insbesondere mit der sozialen Frage und der Sozialpolitik »auf das richtige Pferd« setzen. Ich war ja zuvor unterwegs in den Landesverbänden und auf den verschiedensten Veranstaltungen und habe erlebt, dass wir die Probleme, die die Menschen wirklich bewegen, ansprechen. Und dafür auch Lösungen aufzeigen, insbesondere was den sozialen Bereich anbelangt.

Glauben Sie, dass die Linken auf EU-Ebene etwas bewegen können?

Ja, ich bin da Optimist. Ich glaube schon, dass es einfach wichtig ist, bestimmte Themen zu platzieren. Zum Beispiel, was die europäische Asylpolitik angeht. Es ist eine Katastrophe, was sich da abspielt. Und da war es die Linksfraktion im Europaparlament, die immer wieder den Finger in die Wunde gelegt hat, Entwicklungen öffentlich gemacht, auch Änderungen initiiert hat – auch wenn sich das nicht immer in europäischen Gesetzen widerspiegelt. Und ich glaube, dass auch in anderen Parteien hinsichtlich der Asyl- und Migrationspolitik der EU große Bauchschmerzen herrschen. Aber die Kritik wird eben nicht so öffentlich und nachdrücklich vorgebracht wie von der Linken. Übrigens: Was Sahra Wagenknecht zu diesem Thema sagt, ist für mich ganz fürchterlich. Wenn sie sagt, Deutschland könne nicht mehr Geflüchtete aufnehmen, dann ist das doch eine Argumentation wie jene der AfD oder der extrem Konservativen in unserem Land. Wir können doch nicht die Armen hierzulande gegen die Armen in anderen Teilen der Welt ausspielen! Die Linke muss über die Landesgrenzen und die Grenzen Europas hinausschauen und Unrechtsstrukturen überall auf der Welt bekämpfen. Ein Zurück in die eigenen nationalen Grenzen ist für linke Kräfte überhaupt keine Option.

In Sachen Ukraine-Krieg haben Sie sich aber schon an die Seite von Sahra Wagenknecht – und Alice Schwarzer – gestellt. Sie gehörten zu den Erstunterzeichnen des Manifests für Frieden.

Dazu stehe ich auch heute. Frieden muss das zentrale Thema sein. Und da passiert mir einfach zu wenig. Ich finde es höchst problematisch, dass jeder, der für Frieden ist, dann als Putin-Versteher diffamiert wird, oder als jemand, der sich nicht solidarisch mit der Ukraine verhält. Ich war bereits zweimal in der Ukraine, ich habe mit vielen Menschen dort gesprochen. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn jede Nacht Luftalarm ist, was das mit den Menschen macht. Und ich habe in der Ukraine in Gesprächen erfahren, dass viele sagen: Ich kann nicht mehr. Ich ertrag das nicht mehr, ich übernachte nur noch in der U-Bahn, in Tiefgaragen. Deshalb finde ich den Appell richtig, stärker über Friedenskonzepte zu reden, über einen Waffenstillstand. Das ist kein Entgegenkommen gegenüber Putin, sondern eines, was die Menschen in der Ukraine in den Mittelpunkt stellt. Und ja, ich habe Sahra Wagenknecht geschrieben, dass mir die Abgrenzung gegenüber rechts auf der Demonstration am Brandenburger Tor nicht klar und nachdrücklich genug gewesen ist. Aber insgesamt stehe ich nach wie vor zu diesem Appell.

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