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Verbot von Fluorwachs: Die Skiszene ist in Aufruhr
Eine Aktion für mehr Naturschutz könnte im Langlauf und Biathlon zu noch größeren Unterschieden zwischen Arm und Reich führen
Deutschlands Skilangläufer haben den ersten Testlauf einer neuen Zeitrechnung schon hinter sich. Im finnischen Muonio, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises, feierte das Team um Olympiasiegerin Katharina Hennig vier Siege in internationalen Vorbereitungsrennen. Begleitet wurden die Erfolge von diffusen Vermutungen der Konkurrenz in Sachen Material-Doping. »Die deutschen Erfolge werden mit Argusaugen betrachtet«, sagt Teamchef Peter Schlickenrieder. »Je stärker eine Nation ist, umso mehr Verdächtigungen in Sachen Fluorwachs wird es geben.«
Das Fluorwachs-Verbot ist das große Thema in diesem Ski-Winter und es bringt eine gesamte Szene in Aufruhr. In allen Disziplinen des Ski- und Snowboard-Weltverbandes (Fis) und der Internationalen Biathlon-Union (IBU) ist ab dieser Saison erstmals der Einsatz des beliebtesten Gleitstoffs unter den Brettern verboten. Das hat ökologische und gesundheitliche Gründe. Bestimmte Fluor-Verbindungen (C8) stehen unter Verdacht, krebserregend zu sein. Dazu sind sie in der Natur nicht abbaubar.
Peter Schlickenrieder findet es deshalb »genau wie beim Thema Doping ethisch richtig, dass wir diese Fluor-Diskussion führen und Maßnahmen ergriffen haben«. Gerade der Wintersport sei auf die Natur angewiesen und moralisch zu ihrem Schutz verpflichtet: »Wir gehen an das Thema genau wie an Dopingproblematik ran: Es gilt eine Null-Toleranz-Politik. Fluorfrei: Wir halten uns im Weltcupbereich zu 100 Prozent daran.«
So weit, so richtig. Allerdings bringt das Fluorwachs-Verbot eine ganze Reihe von Problemen mit sich. Das hat schon der Auftakt des alpinen Weltcups in Sölden gezeigt, bei dem die Norwegerin Ragnhild Mowinckel disqualifiziert wurde. Die Messung ihrer Ski hatte laut Fis »einen deutlich erhöhten Fluorwert« gezeigt. Vor dem Rennen sei der Servicemann nach Angaben der Skifirma aber mit den Brettern und der gleichen Präparierung bei der Kontrolle gewesen und die Ampel im Gerät hatte »Grün« angezeigt.
Eine Menge möglicher Ursachen für den gleich beim ersten Härtetest aufgetretenen Supergau für die Ski-Szene wurden diskutiert. Zum einen wären da die etwa 30 000 Euro teuren Messgeräte, die mittels Infrarot-Spektroskopie den Anteil polyfluorierter Chemikalien auf dem Skibelag messen. Erlaubt ist ein Wert zwischen 0 und 1, allerdings haben die Messgeräte eine Fehlertoleranz von 0,8. Sehr problematisch, wenn das Ganze über Sieg, Niederlage und jede Menge Preisgeld entscheidet. Laut Charly Waibel, Wissenschaftstrainer des Deutschen Skiverbandes (DSV), hätten bei Tests verschiedene Geräte beim gleichen Ski unterschiedliche Ergebnisse ausgespuckt.
Noch komplizierter wird das Ganze, weil theoretisch auch eine Kontamination durch Fluor-Verbindungen während des Wettkampfes denkbar ist. In den Achtzigerjahren wurde diese Wachsart im Skisport als legales Materialdoping entdeckt. Das bedeutet, dass auf den Loipen, Pisten und Schanzen dieser Welt seither jede Menge Fluor-Rückstände zu finden sein dürften. Im Breitensport sind die Wachse auch noch nicht verboten. »Die Gefahr der Kontamination und damit der Disqualifikation ist gegeben. Anlaufspuren, Wachs-Container und andere Orte bergen Fluorpotenzial. Das können wir einfach nicht alles kontrollieren«, sagt Skisprung-Bundestrainer Stefan Horngacher. Im Fall von Mowinckel soll übrigens ein Korken, der bereits früher zum Verteilen des Wachses auf den Ski genutzt worden war, für die Kontaminierung verantwortlich gewesen sein.
Der DSV versucht inklusive der Anschaffung von vier teuren Messgeräten alles, was möglich ist. »Die Techniker haben das Innenleben des kompletten Wachs-Trucks in seine kleinsten Einzelteile zerlegt, gereinigt und wieder zusammengesetzt. Sie haben irrwitzig viele Stunden investiert«, berichtet Langlauftrainer Schlickenrieder dem »nd«. Zudem habe man für alle Teammitglieder Kurse zu Themen wie Handschuh- und Material-Reinigung angeboten und erklärt, warum die Athleten die Laufflächen der Ski nicht mehr mit ihren Handschuhen anfassen dürfen. Der Teamchef sieht seine in den vergangenen fünf Jahren auch kommunikativ zusammengewachsene Truppe so gut wie möglich auf die neuen Regeln vorbereitet und ist sich trotzdem ziemlich sicher, dass es »zu Falsch-Positiv-Tests kommen wird: Aber auch das werden wir zusammen durchstehen. Schuldzuweisungen wird es nicht geben«.
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Wie immer in solchen Situationen im Hochleistungsbereich wird es aber auch Sportler und Nationen geben, die die Toleranz-Bereiche und Messverfahren ausloten werden. Wissenschaftstrainer Waibel erklärte jüngst im »Merkur«, dass er »eine Betrugskultur wie im Radsport der 90er Jahre« befürchtet. Es gibt zum Beispiel den Trick, fluorhaltige Verbindungen mit anderem Wachs auf dem Ski abzudecken. Nach einer gewissen Wettkampfstrecke samt Abrieb hätte man dann den Fluor-Vorteil. Deshalb will die Fis auch nach dem Wettkampf testen – natürlich hat eine Überführung nach dem Zieleinlauf die Disqualifikation zur Folge.
Um Manipulationen vor dem Start auszuschließen, werden die Ski nach dem erfolgreich bestandenen Fluor-Test im Kontrollzelt eingeschlossen und dürfen erst zum Wettkampf angeschnallt werden. Falls sich in der Zwischenzeit die Wetterbedingungen ändern und ein anderes Wachs erfordern, hat der Sportler Pech gehabt. Skilanglauf-Experten erklären, dass vor allem bei komplizierten Schneebedingungen (warm und feucht) der Einsatz von Fluorwachs bis zu fünf Prozent Zeitersparnis bringen kann. Das sind in diesem Sport ebenso wie im Biathlon und der Nordischen Kombination Welten. Auf zehn Kilometern kann so locker mehr als eine Minute Vorsprung herausgelaufen werden.
Festzustehen scheint, dass das Verbot die Skiwelt nicht gerechter machen wird. Bei den Biathlon-Vorbereitungsrennen waren die schon zuvor starken Norweger so überlegen, dass es ihnen selbst fast peinlich war. Die viermalige Weltmeisterin Ingrid Landmark Tandrevold sagte: »Es ist nicht unbedingt so, dass wir Norweger besser als andere sind, aber das Material hat viel zu sagen. Es ist unglaublich schwer, mit fluorfreiem Wachs zu laufen und dabei so schnell zu sein wie diejenigen, die bessere Ski haben. Das ist einfach unfair.« Superstar Johannes Thingnes Bö sprach sogar provokativ von einer »Penisverlängerung« für die Norge-Athleten.
Haben die Norweger bereits die perfekte Wachsformel ohne Fluor gefunden? Sich erfolgreich an Grenzwerte herangetestet oder einfach eine viel größere Zahl an schnellen Ski für alle möglichen Wetterbedingungen? Niemand weiß es genau. Fest steht jedoch, dass die zumindest im nordischen Skisport und Biathlon wohl reichste Nation einen 700 000 Euro teuren, innovativen Wachs-Truck angeschafft hat. »Je mehr Geld ein Team hat, umso größer sind nach dieser Regeländerung seine Chancen – davon bin ich überzeugt«, sagt Deutschlands Langlauftrainer Schlickenrieder: »Zum anderen kann man mit mehr Technikern dreimal so viel testen wie die kleinen Nationen – das ist ein riesiger Vorteil. Zum anderen sind die Ressourcen größer, um nach Ersatzstoffen für Fluorwachs zu suchen. Die Kleinen werden leiden.«
Die Unterschiede zwischen Arm und Reich im Spitzen-Wintersport könnten also noch größer werden. Ob zumindest die Natur ein Gewinner des Fluorwachs-Verbots ist, wird sich erst noch herausstellen müssen. Es ist zumindest fraglich: Die Liste der Fluor-Ersatzstoffe für möglichst schnelle Ski reicht schließlich von Silikonen über Chrom und Bor bis zu Schwermetallen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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