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Stockende Aufarbeitung zur Colonia Dignidad

Angehörige von Verschwundenen drängen die deutsche und die chilenische Regierung zum Handeln

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 5 Min.
Angehörige von verschwundenen politischen Gefangenen bei der symbolischen Grundsteinlegung für einen Gedenkort in der Ex-Colonia Dignidad
Angehörige von verschwundenen politischen Gefangenen bei der symbolischen Grundsteinlegung für einen Gedenkort in der Ex-Colonia Dignidad

Mit zwei Bussen sind sie angereist. Etwa hundert Personen, Angehörige von ermordeten oder verschwundenen politischen Gefangenen und ihre Unterstützer sind in die Ex-Colonia Dignidad gekommen. Die frühere deutsche Sektensiedlung in Chile liegt etwa 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago in idyllischer Landschaft am Fuß der Anden.

Auf dem Gelände, wo einst ein Regime von sexuellem Missbrauch und Zwangsarbeit herrschte und wo während der Pinochet-Diktatur vermutlich rund hundert Oppositionelle »verschwanden«, floriert heute ein Tourismusbetrieb mit Hotel-Restaurant im bayerischen Stil. Nun wurde hier mit einer feierlichen Zeremonie der symbolische Grundstein für eine Gedenkstätte gelegt.

»Seit fünfzig Jahren suchen wir unsere Liebsten, bisher ohne Erfolg«, sagt Myrna Troncoso, die 80-jährige Vorsitzende des Angehörigenverbands von Verschwundenen aus der Region des Mauleflusses. Ihr Bruder Ricardo wurde 1974 verhaftet, bis heute ist sein Schicksal nicht aufgeklärt. »Auch zum 50. Jahrestag des Putsches am 11. September haben wir keine Antworten auf unsere Fragen bekommen. Deshalb haben wir entschieden, ein Mahnmal aufzustellen.«

Die Besucher haben sich an der Feldscheune versammelt, einem etwas abgelegenen Gebäude, und dort Fotos von Verschwundenen und Transparente im Stroh aufgereiht. In einem Keller unter dieser Scheune wurden während der von 1973 bis 1990 währenden Diktatur politische Gefangene gefoltert.

Jemand spielt Gitarre und singt dazu. Die Anwesenden enthüllen gemeinsam einen marmornen Gedenkstein, den sie selbst angefertigt und hier in die Erde gesetzt haben. »In Erinnerung an die Männer und Frauen vom Land und aus der Stadt, die hier gestorben sind«, steht darauf geschrieben und: »Wir werden euch nicht vergessen, auch wenn tausend Jahre lang Menschen über diesen Ort schreiten.«

Die 1961 von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer gegründete deutsche Siedlung nennt sich seit Ende der 1980er Jahre Villa Baviera, also Bayerisches Dorf. Chilenische und internationale Besucher kommen überwiegend wegen des guten Essens, der Ruhe und der frischen Luft hierher.

»Es ist beschämend, dass hier Tourismus betrieben wird und die chilenische und die deutsche Regierung bis heute weder eine Gedenkstätte noch ein Dokumentationszentrum geschaffen haben«, sagt Myrna Troncoso. Fast nichts erinnert an die auf dem Gelände jahrzehntelang begangenen Verbrechen. Dabei gehörten Gehirnwäsche, Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt unter der Sektenführung rund um Paul Schäfer rund vierzig Jahre lang zum Alltag der Bewohner der streng abgeriegelten Siedlung. Die Botschaft der Bundesrepublik in Chile gewährte aus der Siedlung Geflohenen meist keinen Schutz.

Während der Pinochet-Ära kooperierte die Colonia Dignidad eng mit dem chilenischen Geheimdienst DINA. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende nach Aussagen von Siedlungsbewohnern, den sogenannten »Colonos« ermordet, in anonymen Gräbern verscharrt, später wieder ausgegraben und verbrannt. Ihre Asche soll in den nahegelegenen Fluss Perquilauquén gestreut worden sein. Aus diesem Fluss haben die Angehörigen heute Steine geholt und diese rund um die Marmortafel abgelegt.

Auch frühere »Colonos« sind dabei. »Das war ein sehr feierlicher Moment. Der Schmerz um die Verschwundenen war spürbar«, sagt der 40-jährige Rafael Labrin. Er wurde als Kind chilenischer Eltern im Krankenhaus der Colonia Dignidad geboren und von Leuten aus der Sektenführung zwangsadoptiert. Erst 2017 fand Rafael Labrin seine leibliche Mutter wieder. »Jeder hat sein Leid durchgemacht. Ich unterstütze die Angehörigen der Verschwundenen. Sie brauchen einen Ort, wo sie Blumen ablegen und trauern können.«

Auch Iris Leiva und Sergio Campos wurden als Kinder in der Colonia Dignidad unter Druck adoptiert, sind in der Siedlung aufgewachsen und wurden schwer misshandelt. »Wir sind auch Opfer. Auch für uns wäre es gut, wenn es eine Gedenkstätte gäbe. So würde auch unsere Geschichte dokumentiert und erzählt werden«, sagt Iris Leiva.

Die Initiatoren der symbolischen Grundsteinlegung appellieren an die Verantwortung der beiden Staaten. Im Vorfeld der zwölften Sitzung der Chilenisch-Deutschen Gemischten Kommission zur Aufarbeitung der »Colonia Dignidad« an diesem Montag in Santiago de Chile veröffentlichten sie eine Erklärung, in der es heißt: »Mit großer Sorge beobachten wir, dass der Prozess der Einrichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes blockiert ist.«

Zwar hatten sich Chiles Präsident Gabriel Boric und Bundeskanzler Olaf Scholz bereits im Januar 2023 für eine Gedenkstätte ausgesprochen. Ein Konzept dafür wurde von einem deutsch-chilenischen Expertenteam unter Mitwirkung von Elke Gryglewski, Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, entwickelt. Aber die von der Regierungskommission im April beschlossene Einrichtung einer Stiftung oder anderen Trägers für die Gedenkstätte und auch die Installation von Gedenktafeln wurden nicht umgesetzt.

Bundestagsabgeordnete verschiedener Parteien drängen zum Handeln. Der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU, Michael Brand, lobt das Konzept und kritisiert, dass Außenministerin Annalena Baerbock und Bundeskanzler Olaf Scholz »erkennbar kein echtes Interesse an dem Thema zeigen«. Auch Renate Künast von den Grünen drängt zur Einrichtung einer Stiftung für den Gedenk-, Dokumentations- und Lernort in Chile. Der kulturpolitische Sprecher der Linken, Jan Korte, betont die »historisch einmalige Situation«, dass beide Regierungen die Aufarbeitung voranbringen wollen. Doch dieses Fenster könne sich bei kommenden Wahlen mit einem möglichen Sieg der Rechten für längere Zeit wieder schließen. Deshalb müsse jetzt gehandelt werden.

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