»Niemand stirbt, nur weil man über den Tod redet«

Die Bestatterin und Notfallseelsorgerin Sarah Benz plädiert dafür, sich frühzeitig mit dem Sterben zu befassen

  • Interview: Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 8 Min.
Den Abschied von einem geliebten Menschen dürfen Hinterbliebene individuell gestalten, sagt die Bestatterin Sarah Benz. »Oft schaffen sie dabei etwas Wunderschönes und Wertvolles.«
Den Abschied von einem geliebten Menschen dürfen Hinterbliebene individuell gestalten, sagt die Bestatterin Sarah Benz. »Oft schaffen sie dabei etwas Wunderschönes und Wertvolles.«

Frau Benz, kann man sich auf den Tod vorbereiten?

Ich kann mich auf meinen eigenen Tod vorbereiten, indem ich mir überlege, wie ich gerne verabschiedet werden möchte. Auch Zugehörige können sich auf den Tod einer nahen Person vorbereiten. Damit sie eine selbstbestimmte Abschiednahme gestalten können, ist es wichtig, dass sie ihre Möglichkeiten und Rechte kennen. Aber auf den Schmerz und die Traurigkeit, die der Tod eines geliebten Menschen mit sich bringt, kann man sich nur bedingt vorbereiten.

Sie sprechen von Zugehörigen, nicht Angehörigen. Warum?

Im Strafgesetzbuch zählen zu den Angehörigen nur Personen, die in gerader Linie verwandt oder verschwägert sind. Also Eltern, Kinder, Pflegeeltern und Pflegekinder, Geschwister, Verheiratete, Verlobte und Verschwägerte. Es ist also ein sehr exklusiver Begriff. Freund*innen, Wahlfamilie oder Lebenspartner*innen zählen zum Beispiel nicht dazu, obwohl die Beziehung zu ihnen manchmal viel enger sein kann.

Ab wann soll man sich mit dem Tod beschäftigen?

Man kann schon mit Kindern über den Tod und Verlust sprechen. Verluste ziehen sich durch unser ganzes Leben. Wenn wir Kindern beibringen, wie man mit Verlusten umgeht und wie man sie bewältigen kann, können wir ihnen etwas Wichtiges vermitteln für ihr weiteres Leben.

Kriegt die Großmutter nicht Angst, wenn man zu ihr sagt: »Oma, wir müssen mal über Deinen Tod sprechen«?

Auch wenn unser Verstand uns sagt, dass es albern ist, sind viele von uns trotzdem ein bisschen abergläubisch. Aber: Niemand stirbt, nur weil man über den Tod redet. Ich erlebe übrigens auch das Gegenteil. Die Großmutter möchte gerne über ihren Tod reden, aber die Familie mauert.

Ist es besser, einen sterbenskranken Menschen ins Hospiz zu geben oder zu Hause zu pflegen?

Die Frage kann ich nicht beantworten. Im Hospiz gibt es viele Menschen, die die Zugehörigen und die sterbenden Menschen unterstützen. Das kann eine große Entlastung sein. Andererseits kann es auch total schön sein, Sterbende – falls nötig mit der Unterstützung eines Palliativ-Pflegedienstes – zu Hause zu pflegen. Aber in Deutschland sterben rund 80 Prozent aller Menschen im Heim oder im Krankenhaus, obwohl die allermeisten Menschen das nicht möchten.

Was muss getan werden, damit Menschen dort sterben können, wo sie es möchten?

Die Palliativ-Versorgung muss ausgebaut und mehr Hospizplätze geschaffen werden. Ich will niemanden unter Druck setzen, einen sterbenden Menschen zu Hause zu pflegen, denn ohne Hilfe können die Belastungen sehr groß sein. Aber mehr Aufklärung darüber, welche Hilfe man zu Hause erhalten kann, würde Menschen helfen, eine informierte Entscheidung treffen zu können.

Was muss man sofort tun, wenn ein Mensch gestorben ist?

Nichts. Man kann sich Zeit nehmen, um zu spüren, was gerade passiert ist. Man muss nicht sofort hochspringen und in Aktion verfallen.

Was muss man in den Stunden nach dem Tod tun?

Das Erste, was man tun muss, ist, einen Arzt anrufen, der den Tod feststellt und einen Totenschein ausstellt. Dann sollte man ein Bestattungsinstitut informieren.

Wie lange darf man einen Verstorbenen zu Hause behalten?

Da das Bestattungsgesetz Ländersache ist, ist das von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Thüringen sind es 48 Stunden und in Bayern gibt es keine Frist, in Berlin darf der verstorbene Mensch 36 Stunden zu Hause bleiben.

Viele Menschen haben Angst, einen Toten zu berühren. Spricht irgendetwas dagegen?

Nein, überhaupt nichts. In unserem Buch erzählen wir die Geschichte einer Frau, die mit ihrem Mann im Bett lag, als er starb. Sie hatte den Impuls, sich noch mal an ihren Mann zu schmiegen und seine letzte Wärme zu spüren. Das kann etwas total Intimes und Schönes sein. Auch wenn die Seele – oder wie auch immer man es nennen mag – den Körper vielleicht bereits verlassen hat, hat man ja auch die Hülle des Menschen geliebt. Die Berührung kann helfen, mit allen Sinnen zu verstehen, dass jemand gestorben ist. Den Tod wirklich zu spüren, kann eine ganz wichtige Erfahrung sein.

Eltern wollen Kindern oft den Anblick von sterbenden oder gestorbenen Menschen ersparen, damit sie sie so in Erinnerung behalten, wie sie sie kannten ...

Ich mag diesen Satz nicht. Denn die Erinnerung hat man ja an einen lebendigen Menschen – und einen lebendigen Menschen kann man nicht beerdigen. Einen Verstorbenen noch mal zu sehen oder zu berühren, kann beim Abschiednehmen sehr hilfreich sein. Aber Kinder müssen von ihren Eltern oder Bezugspersonen darauf vorbereitet werden und auch diese müssen unterstützt werden, wenn sie es benötigen. Wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener einen verstorbenen Zugehörigen nicht mehr sehen will, ist das auch okay. Wichtig ist es, das Angebot zu bekommen. Selbstbestimmung heißt dann, ja oder nein dazu sagen zu können.

Macht Ihnen der Anblick von Toten nie Angst?

Ich bin definitiv nicht angstfrei und will das auch gar nicht sein. Die Toten machen mir keine Angst. Aber auf den Augenblick, in dem ich den Reißverschluss der Hülle öffne, in der die Toten aus der Gerichtsmedizin kommen, muss ich mich vorbereiten. Die Zugehörigen dürfen bei allem, was ich mache, dabei sein. Nur beim ersten Öffnen der Leichenhülle bin ich gern allein mit meinen Kolleg*innen und brauche selbst auch Zeit, um mich anzunähern. Wenn die Verstorbenen aus der Hülle genommen wurden und gewaschen vor mir liegen, ändert sich schon sehr viel. Wenn es Verletzungen gibt, möchte ich mir erst mal Zeit nehmen. Ich kriege dann einen analytischen und handwerklichen Blick, überlege, was die nächsten Schritte sind.

Wie viele Tote haben Sie schon gesehen und versorgt?

Ich habe die Toten nicht gezählt, aber es waren Hunderte. Ich arbeite seit 2018 als Bestatterin.

Was macht eine gute Trauerfeier aus?

Dass sie zu dem Menschen passt, der gestorben ist, und zu denen, die sich verabschieden. Das gilt natürlich für den gesamten Abschiedsprozess. Ich habe durch meine Arbeit viele Menschen kennengelernt, die bei früheren Todesfällen überhaupt nicht wussten, was sie alles hätten selbst gestalten können und bereuen, den Abschied nicht individueller gestaltet zu haben. Darum ist es so wichtig, seine Rechte zu kennen. Man kann zum Beispiel zu jedem Zeitpunkt den Bestatter wechseln. Mir hat jemand erzählt, dass ein Institut mal Theater gemacht hat und den Toten nicht rausrücken wollte, aber notfalls kann man das polizeilich durchsetzen. Und es ist nicht die Regel.

Soll man Kinder mit zur Beerdigung nehmen?

Man kann Kinder auf jeden Fall mit zur Beerdigung nehmen. Wenn sie nicht dabei sein möchten, wird man es merken. Es gibt kein Mindestalter. Es ist doch schön, wenn die ganze Familie beim Abschied dabei ist, ohne dass die Kinder ausgeschlossen werden. Wichtig ist aber auch, dass die Erwachsenen sich damit wohlfühlen. Wenn Eltern unsicher sind, überträgt sich das auf die Kinder.

Darf, soll oder muss man bei einer Beerdigung weinen?

Wir haben in unserer Gesellschaft leider immer noch eine bestimmte Vorstellung davon, wie Trauer sein soll. Auf der Beerdigung ein bisschen zu weinen, ist in dieser Vorstellung richtig, aber zu viel sollte es bitte auch nicht sein. Ich finde, wir sollten diese Vorstellung weiten. Es ist völlig okay, wenn jemand zusammenbricht, weil ein lieber Mensch gestorben ist. Man darf sich auch auf den Sarg werfen. Warum denn nicht? Und wenn man gerade nicht an seine Gefühle kommt und einfach und nicht weinen kann oder will, ist das natürlich auch vollkommen okay.

Mehr als die Floskel »Mein herzliches Beileid« bringen Trauergäste oft nicht über die Lippen, weil sie nicht wissen, was sie Trauernden sagen sollen. Gibt es die richtigen Worte?

Die perfekten Worte gibt es nicht. Der Anspruch: »Ich sage jetzt etwas, und dann geht es dem Trauernden wieder gut«, ist total überhöht. Das einzige, was man machen kann, ist, das zu transportieren, was man im Herzen hat. Man kann auch einfach zugeben, dass man gerade keine Worte hat. Und wenn man dabei rumstammelt, ist das überhaupt nicht schlimm. Viel wichtiger sind Stimmklang, Zugewandtheit und Blickkontakt. Das Mitgefühl wird ankommen, auch wenn die Worte nicht perfekt sind.

Nutzen Bestatter die emotionale Ausnahmesituation ihrer Kunden aus?

Ich kann natürlich nicht für alle Bestatter sprechen, aber ich wehre mich dagegen, Bestatter als eine Zunft geldgeiler Typen hinzustellen, die Trauernde abzocken wollen.

Warum sind Sie Bestatterin geworden?

Ich bestatte unglaublich gerne, weil es mich froh macht, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihren persönlichen Abschied zu finden. Oft schaffen sie dabei etwas Wunderschönes und Wertvolles. Was Trauernde im wichtigen Abschiedsprozess zwischen Tod und Beerdigung erfahren und gestalten können, haben sie für immer in ihrem Herzen, das kann ihnen niemand mehr nehmen.

Sind Sie religiös?

Ich bin christlich erzogen worden und an einem Friedhof aufgewachsen, auf dem ich auch gespielt habe. Gräber sind mir seit meiner Kindheit vertraut.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Wir alle haben den Wunsch, dass nach dem Tod irgendetwas kommt. Aber niemand weiß, was es ist. Trotzdem können wir darüber sprechen, welche Ideen wir haben. Auch mit Kindern. Wir Erwachsenen denken oft, wir müssten Kindern eine Antwort geben, die wir selbst nicht haben. Doch Kinder riechen auf zehn Meter gegen den Wind, wenn wir ihnen irgendwas erzählen, was wir selbst nicht glauben. Deshalb finde ich es besser, zu sagen: »Ich weiß es nicht. Was denkst Du?« Daraus kann sich ein tolles Gespräch entwickeln, das uns hilft, unsere Toten in unserem Herzen oder irgendwo im Außen zu verorten. Ich bin jedenfalls gespannt, was nach dem Tod noch kommt.

Interview

Sarah Benz arbeitet als Bestatterin, Trauerbegleiterin, Notfallseelsorgerin und Dozentin für nonverbale Kommunikation in Pflegeeinrichtungen und Hospizen. Sie ist die Gründerin des Kurzfilmprojektes »Sarggeschichten«. Im Interview spricht sie unter anderem darüber, wie man sich auf den Tod vorbereiten kann, wie man Kindern hilft, Verluste zu verarbeiten, und weshalb es guttut, Verstorbene noch einmal zu sehen und womöglich zu berühren. Ihr Buch: »Sarggeschichten. Warum selbstbestimmtes Abschiednehmen so wichtig ist« ist im Mosaik Verlag erschienen. Sarah Benz hat es gemeinsam mit Katrin Trommler geschrieben.

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