Balkan: »Die Gesellschaft ist fragil«

Im Kosovo gebe es noch immer viel Hass, Wut und Schmerz, sagt die Psychologin Gresa Miftari. Sie versucht, erlittene Traumatisierungen zu heilen

  • Interview: Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Wegen der wachsenden Spannungen im Westbalkan erwägt die Nato, ihre Truppen im Kosovo aufzustocken. Wie ist die aktuelle Lage dort?

Interview

Gresa Miftari, 28, arbeitet seit drei Jahren als Traumatherapeutin für Kinder- und Jugendliche bei der Diakonie Kosova, einer Nichtregierungsorganisation, die schutzbedürftige Menschen unterstützt. Finanzielle Garantien hat die Einrichtung vor allem von der Deutschen Botschaft in Pristina sowie von Organisationen wie Brot für die Welt, vorläufig jedoch nur bis Ende 2024. Aber die Spannungen im Kosovo halten an.

Die Stimmung ist aggressiv. In diesem Jahr kam es im Nordkosovo zu einer der schlimmsten Situationen seit dem Ende des Kosovo-Krieges 1999. Bei Zusammenstößen mit gewalttätigen serbischen Demonstrierenden wurden im Mai 30 Kfor-Soldat*innen verletzt (sowie 50 Demonstrierende, Anm. d. Red.), die den (gewählten albanischen, Anm. d. Red.) Bürgermeister*innen serbischer Gemeinden die Übernahme ihres Amtes verweigerten. Wären keine 3400 Kfor-Soldat*innen im Kosovo stationiert, müssten die Menschen definitiv Angst vor einem neuen Konflikt haben. Obwohl einige Fortschritte erzielt wurden, bleibt die Gesellschaft in vielen politischen und sozialen Belangen fragil.

Was meinen Sie damit?

Im Kosovo leben unterschiedliche Ethnien, die in ihren Vorstellungen über die Zukunft weit auseinanderliegen. Die Albaner*innen setzen sich für die Stärkung des Kosovo als unabhängiges Land ein, während viele Serb*innen im nördlichen Teil des Kosovo sich gegen die institutionelle Verwaltung des Kosovo auflehnen. Andere in zentral gelegenen Gemeinden, wie Graçanica, haben eine andere Einstellung und sind gut integriert. Das spaltet die Menschen und macht es schwierig, gemeinsam ein friedliches Miteinander zu schaffen.

Droht eine neue Eskalation?

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Die EU versucht zwar, eine politische Einigung zwischen dem Kosovo und Serbien herbeizuführen. Die Bevölkerung ist jedoch noch nicht an diesem Punkt angelangt. Viele sind nicht in der Lage, die traumatische Vergangenheit hinter sich zu lassen – was aus psychologischer Perspektive verständlich ist. Aufgrund ihrer Erfahrungen vor dem Krieg und während des Krieges schwelt unter den Kosovo-Albaner*innen noch viel individueller und kollektiver Hass, Wut und Schmerz. Auch die Tatsache, dass Serbien sich gegen ein unabhängiges Kosovo stellt, hilft hier nicht weiter. Die Menschen wollen keinen neuen Konflikt. Solange aber nicht an einer politisch gerechten Lösung für die Probleme gearbeitet wird, kann es im Kosovo nur einen begrenzten Frieden geben.

Wie plötzlich kam der Ausbruch des Kosovo-Krieges Ende der 90er Jahre?

Der Ausbruch hat sich lange angebahnt. Im vergangenen Jahrhundert war das Kosovo anhaltend mit einem Mangel an Selbstbestimmungsrechten konfrontiert. 1974 erhielt das Kosovo eine eingeschränkte Autonomie innerhalb des ehemaligen Jugoslawien, bis Serbien 1989 diese Autonomie aufgrund seiner hegemonialen Politik widerrief. Dies sorgte für viel Unruhe unter den Albaner*innen, die sich gegen diese erzwungene Entscheidung auflehnten. Es war der Beginn eines Jahrzehnts, das von Unterdrückung der Kosovo-Albaner*innen gekennzeichnet war.

Der jugoslawische Präsident Slobodan Milošević entzog ihnen die bis dahin erworbenen Autonomierechte. Die mehrheitlich ethnisch-muslimischen Kosovo-Albaner wurden aus allen gesellschaftlichen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen.

Ja, politisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell. Und ich spreche hier von der Tötung von Zivilist*innen, von der Vertreibung von Menschen aus ihren Jobs, von der Inbesitznahme von Schulen, der Vergiftung von Schüler*innen und von Schlägen und Inhaftierungen für all jene, die es wagten, sich gegen das Regime aufzulehnen. Das mündete im Jahr 1998 in einen landesweiten Aufstand der Bevölkerung, der den Beginn des Krieges und schließlich das Eingreifen der Nato markierte.

Ethnisch-albanische Rebell*innen wollten das Land von serbischer Herrschaft befreien. Der Krieg forderte bis zur Intervention von Kfor-Truppen 1999 mehr als 10000 Tote. Seither untersteht das Kosovo der Verwaltungshoheit der UN-Mission Unmik. Wie würden Sie das Klima beschreiben?

Die politische Situation im Kosovo ist weiterhin sehr angespannt und komplex, da eine allgemeine Einigung zwischen dem Kosovo und Serbien noch aussteht. Die politische Instabilität und der wirtschaftliche Überlebenskampf der Menschen führen zu einer tiefen Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die jeden Tag all die wirtschaftlichen und psychologischen Härten überwinden muss. Natürlich sind die Menschen nach wie vor in psychischer Hinsicht geschwächt, da es in der kosovarischen Gesellschaft tiefe Spuren von Traumatisierungen gibt. Im klinischen Sinne kämpfen traumatisierte Menschen unaufhörlich mit unverarbeiteten Erinnerungen. Die Bedrohung setzt sich in ihrer Gegenwart fort und wirkt sich auf ihr tägliches Leben aus.

Neben dem Wiederaufbau der Gesundheitsinfrastruktur besteht da ein hoher Bedarf vor allem an psychologischer Aufbau- und Versöhnungsarbeit. Ein Beispiel ist, dass die Identifizierung von über 1640 Kriegsopfern kaum voranschreitet.

Ja, die Situation der Familien, die Personen vermissen, ist sehr speziell. Sie erlebten ein schweres Bindungstrauma, als ihnen das Familienmitglied oder mehrere Familienmitglieder genommen wurden. Sie lebten über Jahre zwischen Angst und Hoffnung. Jetzt, 24 Jahre nach Kriegsende, ist die Hoffnung erloschen, und sie können noch immer keinen Trost finden und ihre Liebsten begraben. In jedem Fall ist das mit tiefem Leid verbunden. Auch das Leid der im Krieg vergewaltigten Frauen ist tief, da viele von ihnen aus Angst vor Stigmatisierung verschwiegen haben, was ihnen widerfahren ist. Sie waren nicht nur schwer traumatisiert, sondern mit ihrer Verletzung auch völlig allein. Man nimmt an, dass viele Frauen, die Opfer von Vergewaltigung und einer daraus resultierenden Schwangerschaft wurden, zu harten Maßnahmen gegriffen haben. Einige ließen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen oder erzwangen ihn, andere ließen das Neugeborene zurück oder übergaben es einem Kinderheim.

Laut einer Veröffentlichung der Diakonie Kosova ist etwa ein Fünftel der kosovarischen Bevölkerung wegen des Kriegs traumatisiert. Wie wirkt sich das auf ihre Nachkommen aus?

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um die Prävalenz für eine posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo im Jahr 2006. Wenn wir von Traumatisierungen nach dem Krieg sprechen, müssen wir von einer weitaus höheren Anzahl ausgehen. Viele Nachkommen kämpfen mit einem intergenerationellen Trauma, einer Traumatisierung, die ihre Eltern ihnen vererbt und weitergegeben haben. Kinder und Jugendliche, die von einer solchen generationenübergreifenden Übertragung von Traumata betroffen sind, weisen typische emotionale Auffälligkeiten und herausfordernde Verhaltensweisen auf, wie Ängste, Ausbrüche, Wut oder Instabilität. Das Trauma wird in der Regel durch das Verhalten der Eltern auf die Kinder übertragen.

Diakonie Kosova unterstützt Kinder und Jugendliche mit einem solchen intergenerationellen Trauma. Wie hat das angefangen?

Nach dem Krieg gab es zu wenige Traumatherapeut*innen. Viele traumatisierte Kinder, Frauen und Männer lebten mit der Bürde von Angst und Panikattacken. Sie konnten mit ihren inneren Erfahrungen kaum umgehen. Unser Traumazentrum nahm 2009 seine Arbeit auf und begann, die erste Generation an Traumatherapeut*innen im Kosovo auszubilden. Inzwischen bietet Diakonie Kosova kostenlose und niedrigschwellige Dienste für alle an. Fast 2000 Menschen profitieren jedes Jahr von unserer Arbeit. Dieses Jahr hatten wir an unserem Zentrum die bislang längste Warteliste. 58 Personen warteten in den ersten drei Monaten allein in unseren Büros in Süd- und Nord-Mitrovica auf einen Therapieplatz. Dass wir im Kosovo noch immer keine Krankenversicherung haben und die Infrastruktur im Bereich der mentalen Gesundheit fragil ist, erschwert zudem, angemessen auf die Bedürfnisse der Traumatisierten einzugehen. Außerdem haben traumatisierte Menschen in der kosovarischen Gesellschaft immer noch ein großes Stigma zu überwinden, bis sie an dem Punkt angelangt sind, an dem sie Heilung erfahren können. Schaffen sie es jedoch nicht, kann das weitere gesundheitliche Komplikationen mit sich bringen, zum Beispiel somatische Erkrankungen.

Worunter leiden Frauen und Männer im Kosovo aufgrund eines solchen Kriegstraumas?

Zu den vergangenen Jahren haben wir keine verlässlichen Zahlen. Daten einer früheren Studie aus dem Jahr 2009 zeigten jedoch, dass 41,7 Prozent unter Depressionen, 41,6 Prozent unter Ängsten und 43,1 Prozent unter ernsthaften emotionalen Belastungen im Zusammenhang mit Kriegserfahrungen litten. Normalerweise könnten wir heutzutage auf einen Rückgang dieser Zahlen hoffen. Doch die Auswirkungen der Pandemie auf die mentale Gesundheit, die Zunahme häuslicher Gewalt während dieser Zeit, die intergenerationelle Dimension der Traumata und die allgemeine Lage im Kosovo gießen Wasser auf die Mühlen dieser unsäglichen Situation.

Wie wichtig ist die psychologische Arbeit am Traumazentrum für den Friedensprozess?

In einem Stadtteil im Norden Mitrovicas, der von Serb*innen und Bosniak*innen gleichermaßen bewohnt wird, haben wir ein Büro, in dem unser serbischer Kollege eine Traumatherapie anbietet. Wir bilden albanische und serbische Fachkräfte in Traumatherapie aus und erkennen an, dass es auf beiden Seiten ohne Unterschied Traumata gibt, die einer Therapie bedürfen. Wenn es jedoch im Nordkosovo zu Spannungen kommt, wird unsere psychologische Arbeit beeinträchtigt und unsere Klient*innen erleiden Rückfälle. Unser integrativer Ansatz ist zweifellos wichtig. Die Friedenskonsolidierung aber muss auf vielfältige Weise unterstützt werden. Der zugrundeliegende Groll, der tief verwurzelte und unverarbeitete Hass hingegen, der sich zum Beispiel in der Politik manifestiert, steht einer Aufarbeitung und einer Friedenslösung im Weg.

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