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Henry Kissinger: Graue Eminenz, die schillerte
Ein Januskopf und die Diplomatie – zum Tod des US-Politikers Henry Kissinger
Den Wegen am Abend, so schrieb der Dichter Stephan Hermlin, sähe man an: Es sind Heimwege. In diesen Worten schwang Trauer, vielleicht Erlöstheit. Erlösung indes nicht. An Erlösung zu glauben, dafür ist jede menschliche Existenz wahrscheinlich zu lang – denn zu viele Erfahrungen im Leben summieren sich und halten immer wieder genau das wach, was uns fortwährend so elende Albträume bereitet. Zumal in der Politik, wo bisweilen ein seltsames Phänomen zu beobachten ist: Mächtige, fern ihrer Macht, werden unerwartet vernünftig; Kriegsherren, fern ihrer Befehlsstände, neigen mit einem Mal zum Frieden; kalt Rechnende, fern ihrer hohen Posten, finden überraschenderweise zu bedenkender Mahnung; kurz: diejenigen, die gestern noch als Falken wüteten, werden plötzlich zu Tauben. War Henry Kissinger, der jetzt mit 100 Jahren starb, so eine janusköpfige Gestalt? Welches Bild bleibt? Führt jenes Gras, das über die Taten und Zeiten wächst (die Gräben und die Gräber), zu einer abschließend milden Betrachtung? Ist Altersweisheit, die dem Manne unbedingt eigen war, ein besänftigendes Argument gegen frühere Schärfe?
Der nd-Autor Reiner Oschmann, kenntnisreicher Betrachter US-amerikanischer Politik, schrieb: »Kissingers politischer Stern ging an der Seite Richard Nixons, eines der intelligentesten und zynischsten US-Präsidenten, auf und blieb seitdem immer gut sichtbar. Die Widersprüchlichkeit seiner Karriere äußerte sich vielleicht nirgends grotesker als in dem Friedensnobelpreis, den er 1973 für die Beendigung eines Indochina-Krieges erhielt, zu dessen Entstehung, Eskalation und Verlängerung er lange maßgeblich beigetragen hatte.« Da ist sie, die Schreckfigur Politik. Der Schmutz unter den weißen Westen.
Auch Kissingers Wirken, das den Frieden propagierte und dabei oft den Krieg protegierte, offenbart den Doppelcharakter von Diplomatie: Was in den Epochen seit jeher überlebt, ist ja nicht unbedingt und zuvörderst die höhere Vernunft, sondern vor allem der längere Atem. Der kann leider auch stinken. Denn wie fügt sich alles? Indem es gegeneinander kämpft: das Erhabene gegen das Niedrige, das menschlich zutiefst Ehrsame gegen das menschlich zutiefst Grausame. Nie getrennt, sondern ineinander verfilzt. Und immer höchst zungenfertig, also betont ethisch motiviert. Dafür ist Kissinger ein Beispiel.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die furchtbaren Kriegsbilder aus Vietnam, überhaupt das brennende Asien damals, Laos, Kambodscha, auch Pinochets gnadenlose Vernichtung der Allende-Republik – dieser Diplomat zog Fäden einer zynischen Apparatur: Es muss dunkel werden, damit wir die Sterne sehen? Erst Finsternis schafft Helle? Es war Kissinger zwar gelungen, mit Vietnam einen Frieden auszuhandeln, bei dem US-Amerika das Gefühl behalten musste, nicht sein Gesicht zu verlieren (was in den Augen der Weltöffentlichkeit doch längst schon geschehen war!); aber zum Vertrag hin war dies ein horrender Weg, der von der US-Seite zu einem Marathon gezerrt wurde und also noch Tausende in den Dschungeln das Leben kostete (»Wir haben sie bombardiert, bis sie uns erlaubten, ihre Bedingungen zu erfüllen«). Immerhin: Kissinger selbst bekam Skrupel bezüglich des Friedenspreises, er nahm ihn nicht persönlich in Empfang und machte nach 1975 (noch immer klingt der gute Ruf: »Saigon ist frei!«) den Vorschlag, ihn zurückzugeben.
Heinz Alfred Kissinger, der deutsch-jüdische Junge aus Fürth, Jahrgang 1923. Mit seinen Eltern und seinem Bruder entfloh er 1938 Hitlers Staat, der deutsche Akzent würde sich – scheu fast, aber doch bemerkbar – in seinem US-Amerikanisch einnisten. Viele Familienmitglieder, die in Deutschland blieben, wurden von den Nazis ermordet. Kissinger wurde US-Staatsbürger, kämpfte in den Ardennen gegen die Wehrmacht, studierte Staatswissenschaften in Harvard, wo es noch heute ein Gebot gibt, das sich »Kissinger’s Rule« nennt – es bezieht sich auf Diplomarbeiten, sie dürfen 35 000 Wörter nicht überschreiten; der Anlass der Anordnung: Student Kissinger hatte ein skandalös überbordendes Manuskript abgeliefert. Reflexionen über Oswald Spengler und Immanuel Kant. Später dann die Dissertation, in der Metternich und Machiavelli eine entscheidende Rolle spielten. Namen für das Spannungsfeld von Vernunft und Politik, Moral und Macht. Bezeichnende Marksteine für einen Ehrgeiz, den freien Geist und die politische Gestaltung herrschaftsbildend zu vereinen. Um noch einmal Reiner Oschmann zu zitieren: »Mindestens ebenso groß wie Kissingers Geschichtskenntnis war stets auch Kissingers Zynismus, etwa wenn er erklärte: ›Wem es hauptsächlich um Werte geht, sollte nicht den diplomatischen Dienst, sondern das Priesteramt anstreben.‹«
Eindeutig: Krieg stieß ihn ab, und Krieg reizte ihn – als eine Möglichkeit der Politik. Kissinger wurde so zu einem kühlen Spieler auch mit atomaren Drohungen wider die Sowjetunion. Aber auch dies: Er vermittelte zwischen den Fronten des Nahost-Konflikts, leitete Nixons sensationell wirkenden Staatsbesuch in China ein, baute Vorstufen für den Salt-1- und ABM-Vertrag, die zu einem Innehalten beim Drehen der Ost-West-Rüstungsspirale führten. Und bei allem blieb er der Feinsinnige, der mit der Dichterin Ingeborg Bachmann und dem Dramatiker Arthur Miller Briefe wechselte.
Aufgestiegen ist Kissinger zum Nationalen Sicherheitsberater und Außenminister. Letzteres war er acht Jahre lang. Zwölf US-Präsidenten, angefangen bei John F. Kennedy, gab er geistige Beihilfe, auch lange nach seinem offiziellen Amts-Abschied, er zeichnete ihnen taktische Linien vor, vertrat Washingtons Politik in den unwegsamen Gefilden der Weltpolitik. Geschickt, aber auch geeicht; wendig, aber ebenso unbeirrt: Kissinger, hierarchisch sehr nah am jeweiligen Oberhaupt im Weißen Haus, war maßgeblich das Gesicht US-imperialer Herrschaft.
Sein Naturell drängte nach außen, er konnte sich dort zügeln, um im kleinsten Kreis herrlich grob zu poltern (vor allem gegen bestimmte Präsidenten). Der Mann mit Hornbrille wusste ganz genau, wie man einen Kreis so betritt, dass aus dem Hinzutreten ein Auftritt wird. Ein Charakter also, der das Geistige mit dem Gestischen auf eine Weise verband, die den jeweiligen Präsidenten (speziell Nixon!) entlastete und zugleich in der Gewissheit beließ, dass dieser besondere Berater oder Minister ganz im staatsräsonalen Sinne agierte. Die graue Eminenz, die enorm schillerte. Gegen die Apartheid in Südafrika, für die Militärjunta in Argentinien. Er war der Scharfmacher, der freilich ebenso entschärfen konnte; er war der Kurssichere, der doch auch Dehnungskräfte besaß.
Es hätte wenig Sinn, an Kissinger zu denken, ohne Gegenwart in den Blick zu nehmen. Die Welt brüllt und brodelt, wir selber bibbern. Oder? Ukraine, Naher Osten, anderswo: Die Diplomatie krüppelt. Die Kriegstüchtigkeit hat es prägend in den deutschen Wortschatz sozialer Demokraten geschafft, und es schaudert einen bei diesem Gedanken von Herfried Münkler, einem durchaus tonbestimmenden Historiker und Politologen des Landes. Soeben erklärt er im »Stern«, Europa müsse »atomare Fähigkeiten aufbauen … Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.« Atomare Aufrüstung sei nötig, nur »bis an die Zähne bewaffnet« sei man unangreifbar. »Putins Ukraine-Krieg hat die Politik der Nichtverbreitung von Atomwaffen desavouiert.«
Mit Kissinger verstarb einer der letzten politischen Großgestalten des 20. Jahrhunderts, das offenbar nicht enden will und althergebrachte Kriege, lange gehegte Krisen und starre archaische Praktiken weiter und wieder herüber ins neue Jahrtausend zerrt. Und Utopien von der besseren Welt reduzieren sich auf den Versuch von Schadensbegrenzung und technologischer Reaktionsfähigkeit im Rahmen des wenig Möglichen. Es ist, als flehe herrschende Politik beschämend um Verständnis: Bitte vom ausgebeuteten Geist nicht auch noch erwarten, dass er kurz vorm Eintritt der Katastrophe die Technologie der Rettung erfindet. Diplomatie? Tot wie Kissinger? Diplomatie – das wäre wieder: Regelbares verhandeln, es wäre Arbeit im Sinne des Zweckoptimismus: Weil wir uns nicht ändern werden, müssen wir eine so gelassene wie exakt vorgehende Praxis entwickeln, welche die große Katastrophe verhindert, ohne an die Grundsubstanz des menschlichen Irrstrebens gehen zu wollen. Dies ist, schlicht heruntergerechnet, der Stand. In einer Welt, wo der Mensch in der Revolte weiter die Ausnahme bleibt. In einer Welt, in der jeder tagtäglich mehr hinnimmt und aushält, als für ihn gut ist.
Es ist ein politischer Alltag ausgebrochen, der ohne Propheten und ohne Flügelschwingen auskommt. Wo Politik zu Höhenflügen ansetzt, kommen nur Bonusmeilen heraus. Oder Marschflugkörper drohen. Es werden Helden eines neuen Rückzugs benötigt, der doch ein Vormarsch wäre: voneinander lernen, im anderen, im schier Verfeindeten sich selber sehen. Es mag seltsam anmuten, dass Kissinger ausgerechnet Lenin zu den von ihm bewunderten Staatsmännern zählte, aber er verwies gern auf dessen Satz, in der Politik komme es auch darauf an, vom Feinde zu lernen. Eine Bemerkung der späten Taube Kissinger, nicht des früheren Falken.
Auf dem Schreibtisch in Kissingers Land- und Waldhaus in Connecticut stand eine Lampe, deren Sockel einer alten griechischen Vase glich. »Das Porzellan hat Risse, die man nicht sieht«, sagte der Hausherr lächelnd bei einem TV-Interview. Der Bauch der Vase sah ein wenig aus, als wolle er zur Erdkugel werden. Ein ungewolltes Gleichnis? Unser Planet wie eine kostbare Vase mit Rissen? Diplomatie ist zuvörderst nicht die Kunst, Scherben zu kitten, sondern sie zu verhindern.
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