Weltcup in Klingenthal: Die Adler als die Herren der Lüfte

Zum Weltcup nach Klingenthal kommen die deutschen und österreichischen Skispringer als Überflieger, Gründe dafür gibt es einige

  • Lars Becker
  • Lesedauer: 5 Min.
Pius Paschke flog im Alter von 33 Jahren jetzt erstmals auf ein Weltcup-Podest.
Pius Paschke flog im Alter von 33 Jahren jetzt erstmals auf ein Weltcup-Podest.

Neulich auf dem Flughafen Oslo hatten die Skispringer aus Deutschland und Österreich jede Menge Zeit zum Chillen. Wegen der chaotischen Schneesituation in der Heimat verspätete sich die gemeinsame Rückkehr im Flieger um mehrere Stunden. Natürlich wurde dabei auch über die Gründe für die neue Dominanz der Adler aus den beiden traditionellen Flieger-Nationen gefachsimpelt. Über eins waren sich alle einig, wie der Sportdirektor des Deutschen Skiverbandes (DSV), Horst Hüttel, verriet: »Vor der Saison hätte sicher niemand davon zu träumen gewagt, dass man gemeinsam mit Österreich in so einer Breite und Dominanz zu Beginn der Saison auftritt.«

Tatsächlich hat es so eine kollektive Überlegenheit von zwei Nationen im Skispringen lange nicht gegeben: In den ersten vier Weltcup-Springen im finnischen Ruka und im norwegischen Lillehammer räumten Deutschland und Österreich alle Podestplätze ab. Außerdem gingen 31 von 40 Top-Ten-Plätzen an die beiden Länder – ergo belegen drei Austria-Adler und vier deutsche Flieger die ersten sieben Plätze im Gesamtweltcup vor dem an diesem Wochenende anstehenden Weltcup in Klingenthal. Dahinter folgt mit dem Japaner Ryoyu Kobayashi, immerhin Olympiasieger sowie zweimaliger Gewinner des Gesamtweltcups und der Vierschanzentournee, der erste Verfolger aus dem »Rest der Flieger-Welt«. Topnationen wie Norwegen oder besonders Polen stecken dagegen kollektiv in einer tiefen Krise.

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Im vergangenen Winter sah das Kräfteverhältnis noch komplett anders aus: Der Norweger Halvor Egner Granerud dominierte Tournee und Gesamtweltcup. Dort landeten die Deutschen in Person des noch bestplatzierten Andreas Wellinger, damals Elfter der Tournee und Siebter im Gesamtweltcup, unter »ferner liefen«. Was also ist seitdem passiert?

Es liegt bei einer derartigen Dominanz von zwei Nationen in der hochtechnologischen Formel 1 des Winters nahe, die Gründe im Material zu suchen. Schließlich gab es vor der Saison einige Regelanpassungen. Nach Schummelvorwürfen im vergangenen Winter, als einige Flieger wie Granerud im Schrittbereich auffällig weite Sprunganzüge getragen hatten, darf die Bekleidung an dieser Stelle jetzt nur noch drei Zentimeter weiter als die Körper-Silhouette sein. Das schränkt die Tragfläche im Flug ein, wo die Größe des Anzugs eine extrem wichtige Rolle spielt. Zudem wird das Gewicht der Flieger jetzt ohne Sprunganzug und Schuhe gemessen, der vorgeschriebene Body-Mass-Index ist aber bei mindestens 21 geblieben. Somit mussten die Flieger im Grenzbereich ein Kilogramm zunehmen.

Bundestrainer Stefan Horngacher hat in diesem Zusammenhang verraten, dass seine Sportler wie der momentane Gesamtweltcupzweite Andreas Wellinger an ihrem Set-up fast nichts verändern mussten. Weil sie – im Gegensatz zu anderen Nationen – ganz offenbar weder in Sachen Anzug noch beim Gewicht am absoluten Limit waren.

Ein weiterer wichtiger Faktor für das momentane Kräfteverhältnis dürfte die neu eingeführte Vermessung der Skispringer per Bodyscan sein. Bisher war dafür der Materialkontrolleur des Internationalen Skiverbandes in Handarbeit zuständig – was immer wieder zu Vorwürfen der Trickserei führte. »Alle Nationen sagen unisono, dass der Bodyscan das Skispringen fairer gemacht hat«, bestätigt Horst Hüttel. »Der Faktor Mensch ist beim Messprocedere so gut wie ausgeschlossen. Und niemand im Springerlager zieht die Messungen in Zweifel.«

Die deutschen Flieger haben in den Sommermonaten zudem wohl so hart wie nie zuvor in der Ära von Stefan Horngacher an Optimierungen ihrer Flugtechnik gearbeitet. »Wir haben den Windkanal bei Audi intensiv genutzt und haben in Sachen Aerodynamik versucht, das eine oder andere zu verbessern«, verrät Hüttel. Trotz all dieser sichtbaren Hinweise will der Sportchef jedoch nicht bestätigen, dass all diese Faktoren in Sachen Material, Flug und Technik die wichtigsten Gründe für die neue Dominanz der Adler sind: »So wie wir im letzten Jahr keine gravierenden Nachteile gesehen haben, so sehen wir jetzt auch keine Vorteile.«

Hüttel nennt stattdessen die personellen Veränderungen, die nach dem bis auf die drei WM-Medaillen enttäuschenden letzten Winter eingeleitet wurden, als wichtige Puzzleteile für den spektakulären Aufschwung. Horngachers neuer Ko-Trainer Andreas Mitter gilt mit seiner empathischen Art als Stimmungskanone im Team. Und Ronny Hornschuh, der nach sechs Jahren als Schweizer Cheftrainer zurückgekehrt ist, sorgt als Coach im 1b-Kader für frischen Wind. Seine spektakulärste Erfolgsgeschichte ist zweifellos der derzeitige Dritte im Gesamtweltcup – Pius Paschke. Im stolzen Alter von 33 schaffte er es erstmals auf ein Weltcup-Podest und ist damit der älteste Springer der Geschichte, dem das gelungen ist.

Last but not least kehrte auch Werner Schuster als Cheftrainer Nachwuchs zum DSV zurück. Der Österreicher hatte als Vorgänger von Bundestrainer Horngacher zwischen 2008 und 2019 eine Erfolgsära im deutschen Skispringen begründet. »All diese Veränderungen haben eine neue Dynamik ins Team gebracht. Wir haben jetzt acht, neun Topspringer, die man jederzeit im Weltcup einsetzen kann. Diese komfortable Situation hatten wir in den letzten Jahren nicht, und der Bundestrainer hat nun die Qual der Wahl«, erklärt Hüttel.

Auf dem Weg nach ganz oben steht nur noch der Österreicher Stefan Kraft im Weg, der bislang alle vier Weltcup-Springen souverän gewonnen hat. Der Skiflug-Weltrekordler und Gesamtweltcupzweite des vergangenen Winters hat für die neuen Regeln offenbar wie das gesamte Austria-Team das perfekte Set-up gefunden. Allerdings waren die Österreicher im Gegensatz zu den Deutschen auch im vergangenen Winter als Sieger der Nationenwertung schon ganz oben dabei. Danach wählte Stefan Kraft allerdings eine unkonventionelle Art der Saisonvorbereitung. Der 30-Jährige begab sich mit Ehefrau Marisa auf eine sechsmonatige Weltreise: Über Bali, Sydney, Hawaii, Los Angeles und Paris ging es dann mit unvergesslichen Erfahrungen im Gepäck wieder zurück ins Skispringerleben. Und das mit einer ganz neuen Einstellung: »Ich habe gelernt, auch mal wieder spontan zu sein. Und fühle mich so locker wie vielleicht noch nie.«

Mal schauen, ob das bis zur Vierschanzentournee zum Jahreswechsel so bleibt. Denn spätestens dann werden beim emotionalen Saisonhöhepunkt in Deutschland und Österreich aus den dominierenden Nationen knallharte Konkurrenten. Kraft hat die Tournee 2015 schon einmal gewonnen, Deutschland wartet dagegen seit 22 Jahren auf einen Gesamtsieg beim prestigeträchtigsten Skisprung-Event. Aber vielleicht, so hofft Hüttel, ändert sich das ja in diesem außergewöhnlichen Winter: »Irgendwann passt dann das Puzzle zusammen.«

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