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Umstritten wie nie: 75 Jahre Menschenrechte
Das 75. Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht unter keinem guten Stern
Die Menschenrechte »drangen aus der Stube ins Feld hinaus« schrieb der Sozialphilosoph Ernst Bloch. Im Gegensatz zu den abstrakten Sozialutopien verankerten die Menschenrechte soziale Errungenschaften in konkreten Rechtsnormen und Deklarationen. Ein Meilenstein in dieser Geschichte ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die vor 75 Jahren unterzeichnet wurde. Die Erklärung war, wie es in der Präambel heißt, eine direkte Reaktion auf die »Verkennung und Missachtung der Menschenrechte«, die zu »Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben«. Zukünftig sollte ein Zivilisationsbruch wie die Shoah und die Verheerungen verhindert werden, die der Zweite Weltkrieg hervorgebracht hatte. Unter dem Vorsitz der US-Amerikanerin Eleanor Roosevelt verabschiedete die Generalversammlung der neugegründeten Vereinten Nationen das Dokument, das weltweit Nachahmungen gefunden hat, wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 oder die afrikanische Banjul-Charta von 1981.
Die Menschenrechtserklärung ist ein rechtlich nicht verbindliches Dokument. Aber auf ihrer Basis sind in den Folgejahren internationale Verträge geschlossen worden, die das Recht und die Lebenswirklichkeit in vielen Staaten nachhaltig verändert haben. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte garantiert weltweit das Recht sich zu versammeln (Artikel 21). Ein solches Menschenrecht ist gerade in einer Zeit wichtig, in der auch in Deutschland Stimmen aus der Politik laut werden, wie zuletzt von Politiker*innen der FDP, die die Versammlungsfreiheit unter den Vorbehalt der deutschen Staatsbürgerschaft stellen wollen. Die UN-Kinderrechtskonvention von 1992 hat wiederum das Kindeswohl als zentrale Grundlage aller Entscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe verankert, die zugleich auch ausländische Kinder schützt. Die Menschenrechte sind also der wichtigste Maßstab, um Menschen als mit Rechten ausgestattete Personen anzuerkennen und staatliches Handeln einzuschränken.
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Den Menschenrechten wird jedoch immer wieder vorgeworfen, eine eurozentrische Perspektive zu haben und ein Produkt des »Westens« zu sein. Dies würde aber die lateinamerikanischen, afrikanischen, arabischen und asiatischen Einflüsse außer Acht lassen, die bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine große Rolle spielten. Am ersten Entwurf waren beispielsweise der libanesische Politiker Charles Malik und der chinesische Philosoph Peng Chun Chang beteiligt. Der indischen Erzieherin Hansa Metha und der Politikerin Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik ist es zu verdanken, dass die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter in der Menschenrechtserklärung explizit zum Ausdruck gebracht wurde. Und ohne den Einfluss sowjetischer und lateinamerikanischer Juristen hätte es wohl keine sozialen Menschenrechte wie das Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 22) oder das Recht auf Arbeit, gleichen Lohn und Koalitionsfreiheit (Artikel 23) gegeben.
An der postkolonialen Kritik der Menschenrechtserklärung ist aber richtig, dass die Menschenrechte in der Realität überhaupt nicht eingehalten werden und es zahlreiche doppelte Standards im Globalen Norden gibt. Schon 1948 war die Menschenrechtsklärung unter den Vertretern des Globalen Nordens stark umstritten, schließlich hielten Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder die Niederlande immer noch Kolonien. Die Unterzeichnung einer universellen Menschenrechtserklärung brachte sie in große Rechtfertigungsnot. In der Präambel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung heißt es entsprechend, die Generalversammlung verkündet die Erklärung »als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern«. Die Delegierten in den Vereinten Nationen wussten also sehr genau, dass es sich bei den Menschenrechten um ein »Ideal« handelte, dessen Verwirklichung erkämpft werden musste.
Aus dem alltäglichen tausendfachen Bruch der Menschenrechte den Schluss zu ziehen, sie als Maßstab zu relativieren oder vollkommen aufzugeben, wäre verfehlt. Das würde auch den Bewegungen in unterdrückerischen Regimen in den Rücken fallen, die wie im Iran auf die Straße gehen und grundlegende Menschenrechte und Demokratie einfordern. Interessant ist es, dass kürzlich im UN-Menschenrechtsrat Vertreter von Staaten wie Katar, Libyen oder Ägypten der Bundesrepublik Deutschland die Einschränkung des Rechts auf Versammlungsfreiheit vorgeworfen haben. Tatsächlich ist die Lage der Versammlungsfreiheit in Deutschland absolut kritisch zu bewerten. Aber in genau jenen Staaten, die die Kritik äußerten, werden Versammlungen von Oppositionellen gewaltsam unterbunden. Anstatt die Menschenrechte aufzugeben, müsste es darum gehen, auf die Einlösung des Versprechens ihres universalistischen Gehalts zu drängen.
Das 75 Jubiläum der Menschenrechte steht jedoch unter keinem guten Stern. Möglicherweise waren die Menschenrechte noch nie derart umstritten. Weltweit entwickeln sich immer mehr Staaten zu repressiven Autokratien und Diktaturen, in denen die Menschenrechte nichts zählen. Auch in Staaten im Globalen Norden, der sich die Verteidigung der Menschenrechte besonders auf die Fahnen geschrieben hat, sind Erosionen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit drastisch zu beobachten. Menschenrechte werden in öffentlichen Statements von Politiker*innen als veraltet dargestellt, in Europa drohen immer mehr Regierungen offen damit, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten.
Trotzdem gibt es aktuell auch progressive Fortschritte. Die sozialen Menschenrechte gewinnen in den letzten Jahren an Kraft. Neue Lieferkettengesetze orientieren sich an zahlreichen bereits bestehenden Menschenrechtspakten und machen potenzielle Verletzungen durch transnationale Unternehmen einklagbar. Erst in diesem Jahr ist zudem in Deutschland ein Protokoll in Kraft getreten, durch das individuelle und kollektive Beschwerdeverfahren nach dem UN-Sozialpakt möglich werden. Das deutsche Sozialrecht steht menschenrechtlich auf dem Prüfstand. Die Vorschriften zu Sanktionen im Bürgergeld sind hinsichtlich des Menschenrechts auf einen »angemessenen Lebensstandard« nach Artikel 11 des Sozialpakts höchst problematisch. Und die stark eingeschränkte medizinische Versorgung von Asylbewerber*innen und Geduldeten stehen im Widerspruch mit dem Recht »eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit« (Artikel 12 des Sozialpakts).
Menschenrechte mussten in ihrer Geschichte den Staaten stets abgetrotzt werden, ihre Realisierung ist noch umkämpfter. Die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Gewerkschaften, Feminist*innen, Klimaaktivist*innen und NGOs haben in unzähligen Klagen und Dokumentationen das Ideal der Menschenrechtserklärung hochgehalten. Dass die Menschenrechte systematisch verletzt werden, ist jedoch kein Wunder. Schließlich steht ihre Realisierung im Konflikt mit einem Dirty Capitalism (Sonja Buckel), der rassistische, antisemitische, sexistische und ökonomische Herrschaftsverhältnisse miteinander verknotet. Ernst Bloch stellte in seinem Buch Naturrecht und menschliche Würde den Imperativ auf: »Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte«. Die Kämpfe der nächsten 75 Jahre werden zeigen, ob die Menschheit diesem Maßstab näher kommen wird. Der Kampf darum ist jedenfalls noch nicht entschieden.
Maximilian Pichl ist Rechts- und Politikwissenschaftler und Professor für Soziales Recht an der Hochschule RheinMain.
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