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Bruch mit dem Zivilisationsbruch
Felix Axster über Holocaust-Bezüge in den aktuellen Debatten über Nahost
Seit Jahren streitet die Forschung über die Frage nach der Bedeutung des Antisemitismus für den Nahost-Konflikt. Nach dem Massaker der Hamas wird dieser Streit mit zunehmender Intensität ausgetragen. Davon zeugt ein offener Briefwechsel zwischen zwei Gruppen von Forscher*innen, die das Für und Wider von Holocaust-Bezugnahmen bei dem Versuch der Einordnung des 7. Oktober diskutieren.
Beide Seiten fordern Kontextualisierung ein. Doch während die eine Seite die israelische Besatzungspolitik meint, geht es der anderen um die Kontinuität des Antisemitismus in islamistischen Bewegungen nach 1945. Man könnte meinen, dass müsse sich nicht gegenseitig ausschließen. Gleichwohl stellt sich die Frage der Gewichtung. Und da Holocaust-Bezugnahmen auch im politischen Tagesgeschehen nach dem 7. Oktober zum Einsatz kommen, nicht zuletzt im Kontext der rechten israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu, stellt sich diese Frage mit einiger Dringlichkeit.
Vor einigen Wochen veröffentlichten Deborah Hartmann und Tobias Ebbrecht-Hartmann einen Artikel in der Taz, in dem sie das Hamas-Massaker als »erneuter Zivilisationsbruch« bezeichneten. Anhand dieses Artikels lässt sich veranschaulichen, worum in dem Briefwechsel gestritten wird und woran sich die Kritik an Holocaust-Bezugnahmen entzündet. Doch zunächst sei daran erinnert, dass die Rede vom Zivilisationsbruch während des Historikerstreits der 1980er Jahre entstand. Es ging um den Versuch, den spezifischen Charakter der Vernichtung des Judentums während des NS auf einen Begriff zu bringen, auch als Reaktion auf rechte Historiker, die den Holocaust kausal zu den Verbrechen des Stalinismus in Beziehung setzten und somit relativierten. Zivilisationsbruch jedenfalls meinte letztlich »bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft« (Dan Diner).
Felix Axster ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
Hartmann und Ebbrecht-Hartmann nun plädieren für ein Innehalten nach dem 7. Oktober. Der Charakter des Massakers als Zivilisationsbruch gebe sich in dem Umstand zu erkennen, dass hier »auf den Kern des menschlichen Grundvertrauens, sich in der Welt sicher zu fühlen«, gezielt worden sei. Bemerkenswert ist, dass die Autor*innen das Leid der palästinensischen Bevölkerung in Gaza sowie unter israelischer Besatzung keineswegs ausklammern. Doch damit führen sie zum einen die eigentliche Zivilisationsbruch-These (Vernichtung jenseits von realen Konflikten) ad absurdum. Zum anderen ergibt sich das Problem, dass die Dimension eines realen Konflikts zwar anerkannt wird, gleichzeitig aber hinter der Zivilisationsbruch-Perspektive zu verschwinden droht. Dazu passt, dass auch Hartmann und Ebbrecht-Hartmann auf die Notwendigkeit von Kontextualisierung hinweisen. Allerdings meinen sie hier nicht die Besatzung; vielmehr kommen – ausschließlich – die ideologischen Grundlagen der Hamas sowie der genozidale Charakter des Massakers, durch den ein Bezug zur NS-Vergangenheit intrinsisch gegeben sei, als Kontexte in Frage.
Die Art und Weise, wie Teile des Palästina-solidarischen Milieus auch in Deutschland nach dem 7. Oktober zur Tagesordnung übergingen, war frappierend. Insofern lässt sich die Empörung der Autor*innen nachvollziehen. Ihre Holocaust-Bezugnahme allerdings ist nicht nur inkonsistent, sondern sie hat auch den Effekt, die Anerkennung palästinensischen Leids als nachgeordnet erscheinen zu lassen. Einige Tage vor Erscheinen des Taz-Artikels trug der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan einen gelben Stern mit der Aufschrift »Nie wieder«. Dieses Beispiel führen auch die Kritiker*innen von Holocaust-Bezugnahmen in ihrem Brief an. Womit wir wieder bei der dringlichen Frage nach der Gewichtung bzw. den politischen Strategien unter anderem der israelischen Rechten angelangt wären. Ob diese Frage bei der Aktualisierung der Zivilisationsbruch-These in der Taz eine Rolle gespielt hat, vermag ich nicht zu beurteilen.
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