Henstedt-Ulzburg: Ex-AfDler drohen dreieinhalb Jahre Haft

Die Kieler Staatsanwalt hält Tötungsversuch von Henstedt-Ulzburg für erwiesen

  • Joachim F. Tornau, Kiel
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Worte, die Staatsanwalt Lorenz Frahm wählte, waren nüchtern. Doch was er beschrieb, wurde dadurch nicht minder fürchterlich. »Gleichmäßig und kontrolliert« habe Melvin S. den tonnenschweren Pick-up auf den Gehweg gelenkt. Er habe die »Ausweichbewegung« der Menschen, die sich vor dem silbernen VW Amarok in Sicherheit bringen wollten, durch einen Schlenker auf den angrenzenden Grünstreifen »nachvollzogen«. Und dann sei er zwei weiteren weglaufenden Menschen hinterhergefahren und habe auch sie erwischt. »Es erfolgte keine nachvollziehbare Beschleunigung«, sagte Frahm. »Aber eben auch keine nachvollziehbare Bremsung.«

Seit Juli muss sich Melvin S., heute 23 Jahre alt, wegen dieser mutmaßlichen Autoattacke auf Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die AfD vor dem Kieler Landgericht verantworten. Im Oktober 2020 soll er, damals noch als Mitglied der Rechtsaußenpartei, im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg vier linke Demonstrant*innen gezielt angefahren haben.

Am Montag forderte nun der Staatsanwalt, den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu verurteilen – zu einer Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren. »Er war sich der potenziell tödlichen Wirkung eines Fahrzeugaufpralls bewusst«, sagte Frahm.

Dass Melvin S. beteuert hatte, nur einem Freund geholfen zu haben, der von vermummten und mit Schutzwesten und Quarzhandschuhen ausgerüsteten Antifa-Aktivist*innen angegriffen worden sei, ließ der Anklagevertreter nicht gelten. Eine strafbefreiende Nothilfe komme schon deshalb nicht in Betracht, weil der Angeklagte und seine drei Begleiter die Auseinandersetzung, die zudem weit weniger dramatisch abgelaufen sei als behauptet, selbst ausgelöst hätten.

»Das gesamte Verhalten der Gruppe auf der Kundgebung war darauf ausgelegt, eine Reaktion zu provozieren«, sagte der Anklagevertreter. So hatte Melvin S. mit »Reichsbrause« posiert, einer von dem thüringischen Neonazi Tommy Frenck für 14,88 Euro pro Kiste verkauften Limonade in NS-Optik. Und einer seiner Freunde verklebte Sticker des rechtsextremen Netzwerks »Ein Prozent«.

Der Staatsanwalt befand: Die rechte Gesinnung des Angeklagten, der die AfD kurz nach jenem Oktobertag auf Wunsch der Partei verlassen hatte, dürfte bei der Tat »zur Senkung von Hemmschwellen beigetragen« haben. Deutlich weiter gingen die Vertreter der Nebenklage.

Laut Nebenklage: Rassistische Tat

Von einem »Tötungsversuch aus Hass auf den politischen Gegner und aus Rassismus« sprach Rechtsanwalt Björn Elberling, darauf verweisend, dass eine der Betroffenen eine Schwarze Frau ist. Mit seinem Versuch der Täter-Opfer-Umkehr folge Melvin S. einem Muster, das seit jeher typisch sei für rechte Ideologie: Um sich gegen eine vermeintliche Bedrohung des deutschen Volks durch Linke oder eine herbeifantasierte »Umvolkung« zu wehren, sei jedes Mittel recht.

Einen konkreten Strafantrag stellten die Nebenklagevertreter nicht. Schmerzensgelder für ihre Mandant*innen hatten sie in sogenannten Adhäsionsanträgen bereits beantragt. Jetzt beschränkten sie sich darauf, die Angemessenheit des Jugendstrafrechts anzuzweifeln. Neonazismus und Rassismus dürften nicht als »jugendtypisch« verharmlost werden, sagte Anwalt Alexander Hoffmann. »Eine Parteimitgliedschaft ist sogar das Gegenteil von jugendlicher Unreife.«

Verteidiger Jens Hummel hingegen beharrte darauf, dass die Tat allein die Reaktion auf einen »rechtswidrigen Angriff« durch die Gegendemonstrant*innen gewesen sei, und plädierte auf Freispruch. Der Angeklagte sei in der damaligen Situation »überfordert« gewesen, er habe in Sekundenbruchteilen entscheiden müssen, ob und wie er seinem Freund zu Hilfe kommen sollte. »Eine Abwägung war ihm nicht möglich.«

Ein politisches Motiv habe es nicht gegeben, jedenfalls nicht aufseiten seines Mandanten, betonte der Verteidiger – und versuchte seinerseits, die Betroffenen der Tat in Misskredit zu bringen und ihre Aussagen in Zweifel zu ziehen. Schon auf die Schmerzensgeldanträge hatte Hummel reagiert, indem er bestritt, dass die geltend gemachten körperlichen und psychischen Folgen tatsächlich auf die Autoattacke zurückzuführen sind.

Am 21. Dezember dieses Jahres soll das Urteil verkündet werden.

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