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Der mexikanische Robin Hood
Don Armando hilft Flüchtenden, die ihr Glück in den USA suchen wollen, mit allen Mitteln
Don Armando nähert sich mit langsamen Schritten der Küche. Durch die provisorische Matratzenlandschaft gelangt kaum Licht. Der stämmige, korpulente Mann ruft nach Ordnung – der Essbereich müsse stets sauber gehalten werden. Männer und Frauen getrennt, biete seine Unterkunft Platz für rund 70 bis 80 Menschen. Ist der Andrang groß, werden Schlafplätze auf dem Boden in der Küche geschaffen. Ein handgeschriebener Putzplan ziert den graufarbenen Kühlschrank, als wäre es eine WG. Die Herberge »Hermanos en el Camino« (Brüder auf dem Weg) ist jedoch eher eine Zweckgemeinschaft: Migrant*innen aus Mittel- und Südamerika harren hier für Tage, Wochen oder Monate aus. Manchmal wird es auch mehr als ein Jahr.
Ort der Schicksale
Das macht die Herberge von Armando Vilchis Vargas einzigartig – denn viele Flüchtlingsunterkünfte in Mexiko nehmen Schutzsuchende nur für ein paar Tage auf. Don Armando, wie der 68-Jährige aufgrund seines Alters und Respekt genannt wird, zeigt auf einen riesigen Topf mit Fleischbällchen und gewürztem Reis. Die Nachfrage zur Essensaufteilung lächelt Vilchis Vargas schnell weg: »Alle kochen für alle«, erklärt der bärtige Chef, »leckeres Essen« gebe es hier. Er ermahnt ein paar herumtrottende Männer an die Regeln; Sauberkeit, aufräumen, das sei wichtig. Er wirkt in seiner Rolle wie ein tadelnder, aber liebevoller Vater. Seit über 13 Jahren ist seine Herberge ein Ort der Hoffnung, der Schicksale – und ein bisschen auch ein Ort der Liebe.
Mit seinem eigenen Geld habe er das hier aufgebaut, betont Vilchis Vargas, als er mit einer sanften Handbewegung ins Büro bittet. Ein weiteres Detail, das sofort ins Auge springt, macht diese Unterkunft einzigartig: Es war und ist eine Autowerkstatt. Vilchis Vargas redet gerne über die Vergangenheit. Er fing an, Autos für Sportwettbewerbe zu reparieren, »racing cars«. Das habe ihm ordentlich Kohle eingebracht, sagt er. Und stets sei da dieses Gefühl gewesen, etwas geben zu müssen, fügt er hinzu. Ein Teil der Werkstatt ist jetzt eine provisorische Unterkunft für Schutzsuchende.
Metapher einer ganzen Region
Ulises grüßt knapp, stapft mit seinen dunklen Sportklamotten hinaus und führt zu einer langen grünen Fußgängerbrücke. Auf den Schienen unterhalb der Brücke fährt mehrmals täglich der »Todeszug« vorbei. Das ist ein Güterzug, der vom Süden Mexikos bis zur US-Grenze im Norden des Landes Waren transportiert. Dass Menschen auf den Zug aufspringen, um knapp 1500 Kilometer damit zu reisen, ist vom Staat zwar geduldet – jedoch auf eigene Gefahr. »Das Wichtigste beim Reisen mit der Bestie ist, keinen Alkohol zu konsumieren oder in irgendeiner Form high zu sein«, erklärt Ulises, der bereits mehrfach mit dem Zug unterwegs war. Der Spitzname »Bestie« geht auf die zahlreichen Gefahren zurück, auf die sich Migrant*innen einlassen.
Abgetrennte Arme, Beine und Köpfe, Menschen, die herunterfallen und zerquetscht werden: Wer nur einen Augenblick lang nicht aufpasst, der wird von der »Bestie« gefressen. Denn man weiß nie, wann der Zug anhält. Passagiere müssen immer wach sein. Dazu der Terror krimineller Banden, die die Fluchtrouten in Mexiko fest im Griff haben – und Polizist*innen auf ihrer Gehaltsliste. Gruppen wie die »Zetas« entführen Migrant*innen und fordern Lösegeld, zwangsrekrutieren Männer für ihre Kriegsmaschinerie und missbrauchen und prostituieren Frauen. »Egal, wer mich fragt: Ich sage stets, dass ich alleine reise und keine Verwandten in den USA habe«, erklärt der etwa dreißigjährige Ulises eine weitere seiner zahlreichen Vorsichtsmaßnahmen. Denn wer Familie in den Vereinigten Staaten habe, der werde eher zur Zielscheibe der geldhungrigen Kriminellen.
Ulises, der aus Honduras fliehen musste, ist sich über den American Dream nicht mehr sicher. »Mir gefällt Mexiko«, sagt er, »die Kultur ist ähnlich, die Sprache dieselbe, die Leute sind freundlich«. Seit über drei Jahren harrt er hier nun aus, die Migrationsbehörde habe ihm Steine in den Weg gelegt, dann die Pandemie. Und vielleicht, überlegt er laut, bleibe er hier, statt in die USA weiterzuziehen. »Sie kamen in meinen kleinen Laden, und verlangten erst 100 Lempiras. Dann 200, später 300 … sie wollten immer mehr«, erzählt der Geflüchtete. Sie, das sind die Maras, die Gangmitglieder, die wie ein Krebsgeschwür in Zentralamerika wüten. Ulises ließen sie zwei Optionen: Entweder Schutzgeld zahlen – oder im eigenen Geschäft Drogen für die Gang verkaufen. Er kannte einige Nachbarn, die sich darauf einließen. »Einer ist tot, der andere im Gefängnis«, resümiert der Honduraner.
Die »Bestie« war bereits Gegenstand von Spielfilmen, Dokus und Büchern. Der Todeszug und seine Passagiere, die Tausenden von Schutzsuchenden, die täglich in Mexiko durchs Land reisen, sind eine Metapher für die Misere einer ganzen Region: Wer solch eine waghalsige Reise auf sich nimmt, mit dem Ziel, aus seinem Land zu fliehen – der hat jede Hoffnung in seiner Heimat begraben. Die Grenze zwischen den USA und Mexiko hat sich zur gefährlichsten Landmigrationsroute der Welt entwickelt. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) der UN starben oder verschwanden vergangenes Jahr fast 700 Menschen bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren.
Die »schwimmende Bevölkerung«
Zurück in der Herberge setzt sich Armando Vilchis Vargas auf seinen Bürostuhl. Neben ihm: Ein Haufen Zeug, ein riesiger Stapel Papier, unzählige Gegenstände. Vilchis Vargas erzählt, dass in seine Herberge gelegentlich ein Migrationsanwalt kommt, der kostenfrei Behördenkram für Migrant*innen erledigt. So können Flüchtende eine Aufenthaltsgenehmigung in Mexiko bekommen – wie Ulises aus Honduras, der hierbleiben möchte.
Citali kommt in den Raum, grüßt schüchtern, setzt sich und behält ihre schwarze Daunenjacke an. Hier in Metepec, etwa eineinhalb Autostunden vom Zentrum der Hauptstadt entfernt, ist es kälter. Sie ist freiwillige Helferin in der Unterkunft. Zurzeit die einzige. Bedarf herrsche immer, da sind sich Vilchis Vargas und Citali einig, die beiden lachen, zählen Widrigkeiten in der Herberge auf, »wenn etwa mal wieder kaum Essen da ist, kein Gas zum Kochen«. Sie redet über die Herausforderungen der Migrant*innen in Mexiko, die als eine Art »schwimmende Bevölkerung« wahrgenommen werde; denn für Flüchtende ist Mexiko ein Transitland. Die 31-jährige Citali studiert Soziologie im Master in Mexiko-Stadt. Menschen sind hier auf der Durchreise, auf dem Weg zu Uncle Sam, auf dem Weg, sich in den USA ein neues Leben aufzubauen. Auch wenn sich das mittlerweile ändert – denn die gefährliche Flucht zwingt manche zum Umdenken.
Don Armando denkt zurück. Über 20 Jahre ist es her, dass er angefangen hat, sich für die Rechte von Geflüchteten einzusetzen. Er und Priester Alejandro Solalinde gründeten damals in Ixtepec im südlichen Bundesstaat Oaxaca die Herberge »Hermanos en el Camino« (Brüder auf dem Weg). Seine Herberge hier in der Hauptstadt-Peripherie trägt denselben Namen. Priester Solalinde ist einer der wichtigsten Fürsprecher von Migrantenrechten in Mexiko. Die beiden kennen sich gut, sind unweit voneinander aufgewachsen. Don Armando erzählt, wie er damals in Oaxaca in einem Freibad war. In der Nähe fuhr der Güterzug »La Bestia« vorbei. Er sah Hunderte von Menschen, unruhig wartend. »Ich dachte, das sei vielleicht eine Demonstration gegen etwas«, sagt der 68-Jährige, während sich ein Grinsen auf seinem Gesicht formt. Seine laute Stimme und sein stämmiger Körper werden durch seine sanften Gesichtsausdrücke und sein warmes Lächeln kontrastiert. Seit jenem Tag vor über 20 Jahren ist sein Leben nicht mehr dasselbe. Es braucht ein bisschen Zeit, nachhaken und insistieren, dann erklärt Vilchis Vargas einen weiteren, bedeutsameren Grund für seinen Aktivismus: Er ist Halbwaise, wuchs ohne Mutter auf. Die Werkstatt, erklärt er, habe er bereits mit 18 Jahren alleine aufgebaut, »von irgendwo musste ja schließlich Geld her«, so Vilchis Vargas.
Keine Hilfe der Regierung
Joseph lacht ständig. Egal ob über Witziges oder über Misere. Auch er ist aus Honduras, 29 Jahre alt, auch er wurde von einer kriminellen Gang gezwungen, Schutzgeld zu bezahlen. Und auch er floh, wie sein Landsmann Ulises, als es nicht mehr ging. In Don Armandos Herberge kommt die große Politik im Kleinen zusammen. Eine Frau in ihren 30ern schält kleine Garnelen aus einer Tupperdose, und klinkt sich ins Gespräch mit Joseph ein. Denn auch sie ist aus Honduras. Sie stellt ihre Sicht der Dinge dar: Durch die Politik Nayib Bukeles im Nachbarstaat El Salvador, der mit den Gangmitgliedern »aufgeräumt« habe, seien viele von denen nun nach Honduras geflüchtet. In ihren Augen spiegeln sich Verzweiflung und Wut.
Etwa 70 Geflüchtete seien zurzeit in der Unterkunft, vor ein paar Wochen seien es gar 98 gewesen, was die maximale Auslastung überstiegen habe, erzählt Betreiber Vilchis Vargas. Vor allem Venezolaner*innen treffe man an – »die haben in ihrer Heimat nichts zu essen«, sagt er; sowie Kubaner*innen – »die berichten mir stets von der massiven Repression«; und viele Honduraner*innen – »aufgrund der Gewalt und Unsicherheit dort«, ergänzt der gelernte Mechaniker. Von der aktuellen Regierung hält er wenig, »null Hilfe« käme da. Er lässt einige kaum zitierfähige Sätze über den amtierenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador los, konstatiert, dass sich die Unterkunft lediglich durch sein Geld und Spenden der Zivilgesellschaft finanziere.
Geflüchtete würden ihm regelmäßig berichten, wie Polizist*innen und selbst Beamte der Migrationsbehörde von ihnen Geld erpressen. Ob jemand gültige Ausweisdokumente mit sich führt oder nicht, spiele dabei keine Rolle. Dennoch haben die, die hier leben, keine schlechte Meinung von López Obrador. Seine Migrationspolitik ist paradox: Obwohl er repressiv und mit Militär die Grenzen sichert, die Korruption florieren lässt, gestaltet sich seine Rhetorik durchaus freundlich. Als Millionen von Mexikaner*innen am 15. September dieses Jahres mit Bier, Tequila- oder Mezcalschnaps gebannt vor dem Fernseher saßen, stutzen viele einen kurzen Moment. In dieser Nacht beginnen die Menschen, die Unabhängigkeit zu feiern, und das wird traditionsgemäß mit dem »Unabhängigkeitsschrei« des jeweils amtierenden Präsidenten bestritten. López Obrador verkündete dieses Jahr: »Viva el migrante!« – es lebe der Migrant. Auf die Inkongruenz des Staatschefs angesprochen, wird Vilchis Vargas noch lauter. Er prahlt nicht mit seinem Einsatz für die Gesellschaft, für Migrant*innen – er macht es einfach. Bis er irgendwann nicht mehr kann.
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