Auf dem Rückweg nach Brüssel

Unter Premier Donald Tusk könnte sich das Verhältnis von Polen zur EU entspannen. Wie schnell das geht, bleibt offen

Der neue Premier in Polen ist in Brüssel ein Altbekannter: Donald Tusk, Chef der liberalen Bürgerkoalition (KO), war von 2014 bis 2019 Ratspräsident in der EU-Zentrale. Damit stand der heute 66-Jährige unter anderem dem Europäischen Rat vor, jenem Gremium, in dem die Staats- und Regierungsspitzen die europäische Politik bestimmen. Zwar hatte es Tusks KO bei der Parlamentswahl Mitte Oktober nur auf Platz zwei hinter der seit acht Jahren regierenden nationalkonservativen PiS-Partei geschafft. Allerdings hat das Parteienbündnis um Tusk im Sejm eine deutliche Mehrheit – die ihn am Montagabend zum neuen Ministerpräsidenten berief. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der amtierende Ratspräsident Charles Michel gehörten zu den ersten Gratulanten.

Mit Tusk erwarten viele in Polen ein Ende der Eiszeit mit Brüssel. Warschau gilt bei der EU-Kommission, neben Budapest und Bratislava, als eines der Sorgenkinder, die Liste der Konflikte ist lang. Selbst Experten blicken bei der Vielzahl der Streitpunkte und anhängigen Verfahren vor EU-Gerichten kaum noch durch. Dabei sind die nicht justiziablen Verstöße gegen die Werte der EU – wie die Einschränkung des Abtreibungsrechtes – noch nicht einmal eingerechnet.

Hauptkonflikt ist jedoch die sogenannte Rechtsstaatlichkeit. Die EU-Kommission moniert insbesondere, dass der von der PiS-Regierung im Rahmen einer Reform eingerichtete Justizrat nur hörige Richter ernenne, dass Mitglieder des Verfassungsgerichts nicht unabhängig berufen wurden und Disziplinarverfahren gegen Richter eingeleitet wurden, die nicht auf Regierungslinie waren. Zudem war der Kommission eine »selektiven Anwendung des Rechts und der Straflosigkeit wegen der uneinheitlichen Behandlung von Korruptionsfällen aus politischen Gründen« aufgefallen.

Nach end- und erfolglosen Debatten mit und Mahnungen an Warschau hatte der Europäische Gerichtshof diese Rechtsstaatlichkeitsverstöße mit einem Zwangsgeld von einer Million Euro täglich bestraft, die später allerdings halbiert wurde – nach minimalen Änderungen an der Justizreform. Gezahlt hat Polen freilich bislang keinen Cent, und über Gerichtsvollzieher verfügt die EU-Kommission nun mal nicht.

Empfindlicher könnte Warschau da schon die aus selben Grund vor einem Jahr verfügte Sperrung von Fördermitteln ab 2024 treffen. Polen gehört nach wie vor zu jenen Staaten, die an den Finanztöpfen der EU hängen, allein 75 Milliarden Euro waren für das Land im Finanzplan 2021 bis 2027 vorgesehen. Ob das Einfrieren von Fördermitteln jedoch rechtens ist, wird heiß diskutiert. »Die EU-Fördermittel sind keine Almosen«, sagt die Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Dagmara Jajeśniak-Quast, im Gespräch mit »nd«. »Welcher Staat welche Mittel erhält, ist genau geregelt«, eine Verknüpfung mit politischen Fragen sollte nicht erfolgen.

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Auch beim Thema Asyl stellt sich Warschau quer. Hartnäckig weigerte sich die PiS-Regierung, Schutzsuchende aufzunehmen. Nach dem sogenannten Asylkompromiss der EU-Innenminister im Juni, der die EU-Staaten zur Aufnahme von Geflüchteten verpflichtet, beraumte die Regierung ein Referendum über die Aufnahme »von Tausenden illegaler Einwanderer« an – zeitgleich mit den Parlamentswahlen am 15. Oktober. Über den Ausgang der Abstimmung ist jedoch nichts bekannt geworden.

Dabei gab es in den Beziehungen zwischen Warschau und der EU durchaus bessere Zeiten. Vor und nach dem Beitritt Polens im Mai 2004 galt das Land als Musterschüler bei der Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien, die »eine funktionierende Marktwirtschaft« als Grundvoraussetzung für eine Aufnahme vorsehen. Dass es in Folge der Reformen zu schweren sozialökonomischen Verwerfungen – insbesondere durch den Umbau des großen landwirtschaftlichen Sektors und der Montanindustrie – kam, steht auf einem anderen Blatt. Rein wirtschaftlich gesehen ist Polen heute fest in die EU integriert. Drei Viertel der Ausfuhren des Landes gehen in den EU-Bereich, davon wiederum knapp 30 Prozent nach Deutschland, wobei die Zeiten der »einfachen Produkte« aus Polen längst vorbei sind. »In Polen sind Firmen entstanden, die Hightech und höchste Qualität für die EU liefern, neben Made in Germany gibt es inzwischen Made near Germany praktisch als Qualitätssiegel«, sagt Jajeśniak-Quast. Diese Integration spiegelt sich auch im gerade veröffentlichten »Eurobarometer« wider: 75 Prozent der Polinnen und Polen betrachten die EU-Mitgliedschaft als »sehr wichtig«, fast ebenso viele sagen, ihr Land profitiere davon. Besonders hoch war die Zustimmung bei Jüngeren und jenen, die sich als links verorten.

Dass Donald Tusk die Stolperfallen im Verhältnis zu Brüssel ausräumen will, hat er zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht. Wie weit und wie schnell eine Wiederannäherung der neuen Regierung an die EU erfolgen wird, ist allerdings offen. Die PiS – und ebenso die mit ihr verwobene katholische Kirche, die gerade beim Abtreibungsrecht hart bleibt – verfügen nach wie vor über beträchtlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Und ob Tusks Koalition, in der auch die linke Lewica-Partei vertreten ist, tatsächlich in allen Fragen zusammensteht, bleibt abzuwarten.

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