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Auf der Suche nach der solidarischen Zeit
Wir haben schon immer Krisenzeiten erlebt, nur gehen wir heute anders damit um, meint Oliver Schlaudt
»Krisenmodus« ist das Wort des Jahres 2023. Nicht ohne Grund. Vielen Menschen geht das Dauerfeuer der globalen Krisen an die Substanz. Früher feierte man das Ende einer Seuche. In manchen Städten finden sich noch die zu diesen Anlässen aufgestellten Pestsäulen. Das Ende der Corona-Pandemie haben wir nicht gefeiert, da sich im Osten der Ukraine schon eine Konfrontation der Atommächte abzeichnete. Wir hatten nicht einmal die Zeit, kurz Luft zu holen.
Leo Fischer behagt das Wort des Jahres indes nicht, und zwar, wie er in »nd.DieWoche« erläuterte, durchaus aus bedenkenswerten Gründen. Die Rede von der Krise suggeriere, dass es zuvor eine gute alte Normalität gegeben habe. Das sei aber bloß eine kleinbürgerliche Illusion, eine diffuse Vergangenheitsverklärung, die reaktionären Diskursen in die Hände spielt.
Es stimmt, die Begründung der Gesellschaft für deutsche Sprache provoziert diesen Einwand, weil sie so tut, als seien Angst und Müdigkeit die Folge einer neuen Krisenhaftigkeit. Aber die Sprachwissenschaftler haben keine Deutungshoheit über gesellschaftliche Stimmungen und Phänomene. Erlauben wir uns also die Frage, was es mit der emotionalen Erschöpfung wirklich auf sich haben mag, falls die Dauerkrise gar nicht neu ist.
Oliver Schlaudt ist Professor für Philosophie und Politische Ökonomie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz.
Wenn ich an die Zeit vor den Krisen zurückdenke – rückwärts gerechnet: vor dem Überfall der Hamas auf Israel, dem Ukraine-Krieg, der Pandemie, der Finanzkrise, 9/11, der BSE-Krise (erinnern Sie sich noch?), dem ersten Golfkrieg, dem Jugoslawien-Krieg – was sehe ich dann? Eine Kindheit unter den drohenden Wolken der Apokalypse: Atomkrieg, Tschernobyl und saurer Regen beherrschten im Westdeutschland der 1980er Jahre nicht nur die Zeitungen der Erwachsenenwelt, sondern waren auch das bestimmende Thema in der Kinder- und Jugendliteratur. Wir wussten, dass es ums Ganze geht, die Welt, die Menschheit, die Zukunft.
Und doch erinnere ich mich nicht an das Gefühl der Lähmung und Müdigkeit durch eine »Dauerkrise«. Etwas an Fischers Analyse stimmt nicht. »Vorher« war auch schon Krise, selbstverständlich, aber alle wussten es – und offenbar konnten wir auch anders damit umgehen. Und was ist seitdem passiert? Ein Faktor scheint mir auf der Hand zu liegen. In den 80er Jahren waren die Krisen ein Politikum, sie wurden diskutiert und auf den Straßen formierte sich Widerstand. Das war trotz allem, mitten in der Endzeitstimmung, auch eine Quelle von Kraft und Optimismus. Davon trennen uns nunmehr 40 Jahre Dauerfeuer neoliberaler »Reformen«, ein Totalumbau von Gesellschaft und Mentalität, der vom öffentlichen Raum, vom öffentlichen Diskurs und der Idee der Solidarität kaum etwas übrig gelassen hat. Unterdrückung von Diskurs, Marginalisierung von Kritik und Kriminalisierung von Protest tauchten nicht erst in den letzten Jahren auf, sondern nahmen schon anlässlich der großen globalisierungskritischen Proteste der 2000er Jahre ihren Anfang.
Dauerkrise war also schon immer der Normalzustand, stimmt. Aber heute sind wir ihr als vereinzelte und verkümmerte Überreste dessen ausgesetzt, was einmal immerhin so etwas wie eine Gesellschaft war. Ob Internet und soziale Medien die Situation wirklich besser machen oder nicht sogar verschlimmern, ist wohl noch gar nicht abzusehen. Die Krisenmüdigkeit muss also nicht Ausdruck kleinbürgerlicher Illusionen sein. Vielleicht ist sie eine Folge der politisch gewollten Unfähigkeit, auf die Krisen gesellschaftlich, aktiv und solidarisch zu antworten. Und wenn man diesem Gefühl nun die Berechtigung abspricht, indem man es als kleinbürgerliche Realitätsverweigerung abtut, kann es dann nicht sein, dass man damit nicht nur die staatliche Delegitimierung von Kritik und Protest fortführt, sondern gerade jenen Trotz und Frust hervorruft, die das Lebenselixier des Rechtspopulismus darstellen?
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