Europäische Zentralbank auf dem Zinsgipfel

Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank bremst Inflation und Wirtschaft

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die »gefühlte Inflation« ist weiterhin extrem hoch. Sie beträgt im Euroraum 10,1 Prozent. Dies ergab die von der Europäischen Zentralbank (EZB) im Dezember veröffentlichte monatliche Verbraucherbefragung. Dagegen fiel die amtliche Inflationsrate in der Eurozone weit günstiger aus. Sie betrug schon zum Zeitpunkt der Befragung im Oktober lediglich 2,9 Prozent.

Dass der Warenkorb, den die EZB ihrer Inflationsrate zugrunde legt, nicht die subjektive Wahrnehmung der Verbraucher widerspiegelt, hat verschiedene mehr oder weniger statistische Gründe. Die gefühlte Inflation basiert auf der alltäglichen Lebenserfahrung, seit die Energie- und Lebensmittelpreise und damit die Inflation ab Mitte 2021 in die Höhe schossen. Für die sinkende amtliche Inflationsrate sind dagegen statistische Basiseffekte prägend: Hatte 2022 die Preisspirale besonders stark angezogen, fallen die Jahresraten 2023 niedriger aus, weil diese sich auf den entsprechenden Vorjahresmonat beziehen.

Für Verbraucherinnen und Verbraucher summieren sich die so recht harmlos erscheinenden monatlichen Preissteigerungsraten über die Zeit: Rund 125 Euro müssen aktuell aufgewendet werden, um den damaligen Gegenwert von 100 Euro zu kaufen. Statistiker sprechen in dem Zusammenhang von einer »Zahlenillusion«.

Auch ein anderes Phänomen wirft Fragen auf. Die Inflation im Euroraum ist an sich nicht mehr besonders weit vom Ziel der Zentralbank von zwei Prozent entfernt. Doch es gibt weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Eurostaaten. In Deutschland ging die Rate nach der europäischen Berechnungsweise des Harmonisierten Verbraucherpreis-Index (HVPI), der für Vergleiche mit anderen Ländern verwendet wird, im November auf 2,3 Prozent zurück. In Frankreich sank sie auf 3,8 Prozent, in Österreich auf 4,9 Prozent, in der Slowakei auf 6,9 Prozent. Italien litt lange unter einer besonders hohen Geldentwertung. Dort betrug die jährliche Inflationsrate dagegen nur noch 0,7 Prozent und in Belgien ist die Inflationsrate mit minus 0,7 Prozent sogar negativ.

Über die Gründe streiten die Ökonomen. In vielen Volkswirtschaften bremst die lahmende Konjunktur den Preisanstieg stärker als in anderen. Doch entscheidender dürften die Energiepreise sein, die in vielen Ländern unterschiedlich schnell sinken. Das hängt auch von eigenen Gasvorkommen und der Energieinfrastruktur ab. Stichworte sind hier: Atomkraft und Flüssigerdgas LNG.

Denn die Inflation war seit Mitte 2021 im Wesentlichen durch steigende Energiekosten in die Höhe getrieben worden. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, die von den Ölstaaten der OPEC begrenzten Fördermengen und Sanktionen der EU gegen Russland ließen die Preise zusätzlich ansteigen. Von den großen EU-Ländern traf dies besonders heftig die Bundesrepublik. Einige Eurostaaten bezogen schon lange teures Öl und Gas aus aller Welt. Sie waren dadurch weniger abhängig von preiswerten Lieferungen aus Russland als etwa die deutsche Volkswirtschaft noch bis in die jüngste Vergangenheit.

Die steigenden Energiepreise schlugen sich EU-weit direkt und indirekt in höheren Preisen für Rohstoffe, Nahrungs- und Lebensmittel nieder. Was besonders Menschen und Haushalte mit kleinem Einkommen belastete. Zugleich brachte es viele, vor allem energieintensive Unternehmen in Bedrängnis.

Christine Lagarde und ihr EZB-Rat reagierten darauf seit Mitte 2022 mit zehn aufeinanderfolgenden Erhöhungen der Leitzinsen in wenigen Monaten. Der Zinssprint sollte helfen, die Inflation zu besiegen, stieß aber außerhalb des Mainstreams der Ökonomen und Politiker auch auf Kritik. Leitzinserhöhungen seien die falsche Medizin bei einer »importierten Inflation« und hätten schwere Nebenwirkungen, warnte etwa der Professor für Wirtschaftswissenschaften, Rudolf Hickel.

Mittlerweile haben sich die Energie- und Rohstoffmärkte beruhigt. Die Nebenwirkungen der EZB-Geldpolitik treten nun umso deutlicher zutage. Die Unternehmen nehmen weniger Kredite auf, um zu investieren; die Zahl der Insolvenzen steigt und seit vier Quartalen stagniert die Wirtschaft im Euroraum.

Dennoch wird von Beobachtern mehrheitlich keine baldige Zeitenwende erwartet. Es sei »zu früh für Siegesfeiern«, erklärte kürzlich auch Lagarde selbst. Sie sorgt sich, dass die Finanzmärkte noch mehr auf Zinssenkungen spekulieren und dadurch die Inflation 2024 erneut in hohe Höhen treiben könnten. Zudem müsse man die steigenden Löhne im Auge behalten, sagen Zentralbanker. Und ohnehin sei »die letzte Meile« bei der Inflationsbekämpfung wie bei einem Marathonlauf besonders schwierig.

Übertriebene Hoffnungen auf eine Konjunkturbelebung durch eine Leitzinssenkung sollte sich niemand machen. Die EZB dürfte bis weit ins neue Jahr hinein abwarten, so zumindest die Erwartung der Analysten von der Deutschen Bank bis zu den ostdeutschen Landesbanken Helaba und LBBW.

Bei ihrer Kommunikation wird Lagarde wohl darauf bedacht sein, die gefühlten Erwartungen in der Öffentlichkeit und an den Märkten auf schnelle Zinssenkungen einzufangen. Und das, obwohl am Mittwoch das Statistikamt der Europäischen Union gemeldet hatte, dass die Industrieproduktion im Euroraum um 6,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken sei.

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