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Serbien: »Es ist ein Erfolg, dass es Linke gibt«
Für Igor Štiks geht es bei der Wahl in Serbien um weit mehr als die Frage von Autokratie oder Demokratie
Am 17. Dezember finden in Serbien vorgezogene Neuwahlen des Parlaments und auch in vielen Kommunen statt, etwa in Belgrad. Was erwarten Sie von den Abstimmungen?
Es ist schwierig, einen tiefgreifenden Wandel zu erwarten. Das würde bedeuten, dass die Regierung von Präsident Aleksandar Vučić gestürzt wird. Doch über sein Amt wird nicht abgestimmt, er wird weiterhin auf seinem Posten bleiben. Wenn die Opposition gewinnt, würde sie das Parlament, die Regierung und die Justiz übernehmen.
Zehn Jahre des Vučić-Regimes haben die Gesellschaft in hohem Maß traumatisiert. Was die Menschen beunruhigt, ist die Kriminalität dieses Regimes oder die kriminellen Handlungen, die nicht geahndet werden. Hinzu kommt das Gefühl einer vollständigen Blockade der Justiz und der Gerichte. Diese Notlage lenkt aber von anderen wichtigen Themen ab: der Zerstörung von Wirtschaft und Gesellschaft durch ein brutales neoliberales Modell, das den Interessen der herrschenden Oligarchie dient. Dabei wird Staatseigentum privatisiert und auf dem Weltmarkt verkauft. Zurück bleibt ein ausverkauftes Land mit einer riesigen Verschuldung und einer winzigen Minderheit, die Millionen Euro für sich behält.
Igor Štiks ist Schriftsteller, Philosoph und Professor an der Fakultät für Medien und Kommunikation in Belgrad. Auf Deutsch erschienen von ihm »Ein Schloss in der Romagna« (2002) und »Die Archive der Nacht« (2008). Mit Krunoslav Stojaković veröffentlichte er »The New Balkan Left«.
Umfragen sehen im Moment die regierenden Parteien auf Landesebene vorn. In Belgrad hat das oppositionelle Lager indes gute Chancen. Wie beurteilen Sie das?
Ich kann nur hoffen, dass die Opposition zumindest in Belgrad gewinnt. Das wäre notwendig, würde aber nicht bedeuten, dass das Regime stürzt. Die Konfrontation wäre nur verlagert. Für Vučić gibt es viel Handlungsspielraum. Serbien ist kein Land, das nur von einer Partei eingenommen wird. Seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) ist nur ein Vehikel für seine Gruppe an der Macht. Als Präsident hat er die Befugnisse des Ministerpräsidenten übernommen. Alles wird innerhalb des kleinen Kreises um Vučić geregelt.
Das Zweite, was ich mir erhoffe – aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es erwarten sollte: dass die Opposition die Regierung bildet. Wenn Vučić nicht gewinnt, könnte eine Periode des politischen Chaos folgen, die wiederum seinem Regime zugutekommen und ihm helfen könnte, mehr Raum in der internationalen Arena zu finden. Dort steht er wegen seiner Politik im Kosovo unter Druck, unter anderem vonseiten der EU und von Deutschland.
In Serbien wurde bereits 2020 und 2022 gewählt. Warum werden die Bürger in einem so kurzen Abstand an die Wahlurnen gerufen?
Vučić hat verstanden, dass er, um an der Macht zu bleiben, einen ständigen Wahlkampf führen muss. Seine Basis wird damit erneuert und aktiviert; zudem hält er die Gesellschaft in dieser Art von ständiger Aufregung, in der er sich als Führer präsentiert. Obwohl das aktuelle Regime als stabil angesehen wird, ist es ein autokratisches Regime und somit instabil. Vučić weiß das sehr gut. Deshalb bringen Neuwahlen immer neue Energie, aber auch echte Legitimation. Er weiß, dass es um Legitimität geht – nicht um Legalität.
Habe ich Sie richtig verstanden – das System Vučić ist instabil? Trotz seiner fast uneingeschränkten Macht?
Ja, weil es keine klassische Partei ist, die eine Mehrheit im Parlament hat und nach dem Gesetz regiert. Vučićs Partei ist nur ein Mechanismus seiner Herrschaft. Er regiert über die Mafia, verschiedene Geschäftsinteressen, internationale Organisationen und indem er Menschen gegeneinander ausspielt. Die Partei ist dabei ein Weg, um die Gesellschaft zu beeinflussen. Die Dynamik zwischen all den Akteuren verändert sich, das macht sie instabil.
Vučić hat nur bei zwei Gelegenheiten an Boden verloren: Das eine war der Umweltprotest gegen den Lithiumabbau durch Rio Tinto in Nordserbien in den Jahren 2021/2022, das andere die Massenerschießung in Belgrad im Mai dieses Jahres. Hier hat er das Gleichgewicht verloren. Bisher haben diese Instabilität und Unberechenbarkeit des Landes zu Vučićs Gunsten gewirkt, aber es könnte sich irgendwann gegen ihn wenden. Sein Schicksal wird ähnlich sein wie das vieler, die die absolute Macht übernommen haben. Seine Partei wird verschwinden oder in zehn Parteien zerfallen. Die Menschen werden sagen, dass sie ihn niemals gewählt haben. Genauso wie man heute niemanden findet, der zugibt, dass er in den 90er Jahren für Milošević gestimmt hat.
Eines der wichtigsten Themen des Wahlkampfs ist das Kosovo. Worum geht es noch?
Vučić ist selbst sehr stark in den Wahlkampf involviert und eröffnet alle möglichen Themen, um die eigentliche Debatte zu vernebeln. Auf der anderen Seite pocht die Opposition nur auf Korruption, Kriminalität, Intransparenz und moralische Unzulänglichkeiten der Regierenden. Leider werden die wirklichen Probleme nicht diskutiert: die Zerstörung der Gesellschaft und die enormen Ungleichheiten. Auch die Linke, die sich langsam herausbildet, kann bei diesen Fragen nicht punkten. Diese Debatte findet kein Gehör in einem Kontext, in dem die Menschen den Eindruck haben, dass diese Wahl über das Schicksal der Gesellschaft entscheiden wird: Wird es weiterhin diese Art von halbautokratischem Regime geben oder eine Möglichkeit für eine demokratischere Politik?
Wen meinen Sie mit Linken in diesem Zusammenhang?
Wenn ich von der Linken spreche, muss man betonen, dass in Serbien nach 33 Jahren Menschen im Parlament sitzen, die sich selbst als grün-links verstehen. Das ist ein großer Schritt nach vorn; das ist die Kraft, die eine andere Diskussion über die Zukunft des Landes in Gang gebracht hat, nämlich über die Verteilung von Reichtum, den Schutz des natürlichen Lebensraums sowie den Widerstand gegen die Zerstörung der Städte.
Wir sollten Vučić gratulieren. Er hat es geschafft, diese Gesellschaft nach seinem eigenen Bild zu verändern, denn er ist ein außerordentlich geschickter Agendasetter, wie es in der Politikwissenschaft heißt. Er setzt die Themen, die seiner Meinung nach die Menschen beschäftigen sollten. Ganz oben stehen dabei das Kosovo und ethnisch-nationale Fragen – die Menschen vergessen dann die anderen Themen. Andererseits verleumdet Vučić die Oppositionellen, entweder mit veröffentlichten Sexvideos oder indem sie in der Boulevardpresse angegriffen sowie Lügen über sie erfunden werden. Das hat Vučić bisher zum Sieg verholfen. Jetzt hoffen wir – ich unterstreiche das Wort Hoffnung –, dass es dieses Mal nicht funktioniert.
Was sollte eine linke Antwort auf die Misere sein?
In Serbien ist es ein Erfolg, dass es eine Linke gibt. Es ist keine radikale, aber eine progressive, die versucht, eine fortschrittliche, soziale Agenda zu verfolgen und dabei gut mit Bewegungen in Deutschland, Spanien oder den USA übereinstimmt. Die Linke gab es hier seit dem Putsch von Milošević im Bund der Kommunisten Serbiens Ende der 80er Jahre nicht mehr. Damals schlug das Pendel nach rechts, und das tut es noch immer.
Die serbische Linke – wie auch die Linke in anderen ehemaligen jugoslawischen Ländern – lernt jetzt die parlamentarische Politik kennen. Das ist etwas anderes, als auf der Straße für eine gute Sache zu kämpfen. Es ist viel schwieriger, eine Partei zu gründen, die interne Demokratie zu sichern und dann auch noch sicherzustellen, dass man linke Interessen im Parlament vertritt. Ich denke, die Linke muss in dieser Position bleiben, um ein Gegengewicht zur Dominanz des rechtsextremen Diskurses der großen Medien und zur Dominanz der konservativen und nationalistischen Rechten zu bilden. Diese Linke könnte in Zukunft in einem demokratischeren Umfeld eine Chance haben, Wähler anzuziehen, aber auch die Sympathien breiterer Bevölkerungsschichten für ihre Agenda zu gewinnen. Doch jetzt scheint es noch zu früh, darüber nachzudenken.
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