- Kommentare
- Nahost
Staatliche Attacken auf jüdisches Leben in Deutschland
Warum werden so viele Juden und Jüdinnen zensiert, wenn sie Israel kritisieren?, fragt Nathaniel Flakin
Die deutsche Regierung hat ihre bedingungslose Unterstützung für Israel erklärt und sich sogar gegen Forderungen nach einem Waffenstillstand ausgesprochen. Sie behauptet, es gehe darum, »Antisemitismus zu stoppen« und »jüdisches Leben in Deutschland zu schützen«.
Sie bieten jedoch nur denjenigen Jüd*innen Schutz, die sich auf die Seite der rechtsextremen Regierung Israels stellen. Jüdische Menschen, die den Krieg kritisieren und der deutschen Staatsräson widersprechen, sind der Zensur und der Verhaftung ausgesetzt. Das Jüdische Museum Berlin hat sich wegen Aussagen über das Westjordanland von einem Tourguide getrennt. Die Berliner Regierung war so verzweifelt, eine Veranstaltung der Gruppe »Jüdische Stimme« zu unterbinden, dass sie dem Kulturzentrum Oyoun zur Strafe die Zuschüsse streicht. Der südafrikanischen jüdischen Künstlerin Candice Breitz wurde eine Ausstellung gestrichen. Der jüdischen Schriftsteller*in Masha Gessen wurde ein Preis nach Kritik später und in kleinerem Rahmen verliehen, als üblich.
Gessen hat den Hannah-Arendt-Preis erhalten – und ironischerweise war Arendt weitaus kritischer gegenüber Israel als Gessen es ist. In ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« schrieb Arendt, Israels Verbot von Mischehen erinnere an die Nürnberger Gesetze der Nazis. Heute würde Arendt weder an einer deutschen Universität noch an einem anderen öffentlichen Ort sprechen dürfen. Naomi Klein befürchtet, dass »Deutschland die jüdischen Intellektuellen ausgehen werden, die man verbieten kann«.
»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.
Read this arcticle in English.
Deutschland hat Antisemitismus-Beauftrage – haben sie sich zu dieser Welle von Regierungsangriffen gegen Jüd*innen geäußert? Das Gegenteil ist der Fall: Diese nicht-jüdischen Bürokrat*innen beschuldigen jüdische Dissident*innen regelmäßig des Antisemitismus. Sie verlieren kein Wort über die milliardenschweren Erben von Nazi-Kriegsverbrecher*innen oder über moderne Milliardäre, die antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten. Stattdessen wird behauptet, der Antisemitismus sei von Ausländer*innen »importiert« worden.
Die rechtsextreme AfD hat den logischen Schritt getan und ihre eigene Antisemitismus-Beauftragte ernannt: Beatrix von Storch, die aristokratische Enkelin von Hitlers Finanzminister. Sie stimmt zu, dass der Antisemitismus nach Deutschland »importiert« wurde.
In der vierten Nacht von Chanukka war ich auf einer Feier des »Jewish Bund« in Kreuzberg. Das ist eine der beiden jüdischen Gruppen, die pro-palästinensische Demonstrationen in Berlin organisieren – die, wenn man die rechte Presse liest, aus »Judenhassern« besteht. Es war eine tolle Party, aber ich war deprimiert, als ich feststellte, dass die meisten Deutschen nichts über Chanukka wissen und noch nie einen Dreidel gedreht haben. Ein Genosse, der an der Tür arbeitete, bestätigte, dass »die meisten Deutschen keine Juden persönlich kennen«. In den USA ist jeder mit Chanukka vertraut, aber Deutschland ist immer noch tief betroffen von einem Genozid, der noch gar nicht so lange her ist.
Am selben Tag, dem 10. Dezember, organisierte die deutsche Regierung eine Pro-Israel-Demonstration am Brandenburger Tor – und es kamen insgesamt 3.200 Menschen. Genau zur gleichen Zeit demonstrierten 5.000 Menschen in der Nähe des Brandenburger Tors für die Solidarität mit Palästina. Natürlich gab es keine Zählung, aber ich würde wetten, dass mehr jüdische Berliner*innen für Palästina demonstrierten als für Israel.
Wo sind denn all die deutschen Politiker*innen, die ihre Solidarität mit den Jüd*innen bekunden, die sich für Gaza einsetzen? Der Berliner Antisemitismus-Beauftragte hat einmal erklärt, dass nicht-zionistische Jüd*innen im Grunde genommen nicht existieren (»hier und da« gebe es ein paar, räumte er ein). Er könnte sich die Geschichte anschauen – aber er könnte auch in den sozialen Medien nachsehen, wie jüdische Aktivist*innen auf der ganzen Welt Proteste anführen, auch in Berlin. Wie nennt man es, wenn ein deutscher Staatsbeamter die Existenz eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung leugnet? Das klingt für mich nach Antisemitismus.
Jüd*innen sind kein Monolith, der sich hinter Netanjahu aufstellt. Das wirkliche jüdische Leben ist laut, kompliziert und voller Auseinandersetzungen – man denke nur daran, wie der jüngste Krieg jüdische Familien in den USA spaltet. Deborah Feldman hat geschrieben, dass die Politik der deutschen Regierung »die Ansichten einer unsichtbaren Mehrheit jüdischer Menschen verdeckt«, die »keine bedingungslose Loyalität gegenüber dem Staat Israel« haben. Indem die deutsche Regierung jegliche Kritik an Israel unterdrückt, greift sie Jüd*innen an.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.