Nicaragua: Als die Kinder von Marx die Kinder von Sandino grüßten

Vor 40 Jahren startete aus Westdeutschland die erste Arbeitsbrigade nach Nicaragua. Unser Autor war dabei

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 8 Min.
Nachdem die Sandinisten in Nicaragua die Diktatur abgeschafft hatten, brauchten sie Arbeitskräfte auf den Feldern. Es meldeten sich Linke aus Deutschland, um zu helfen.
Nachdem die Sandinisten in Nicaragua die Diktatur abgeschafft hatten, brauchten sie Arbeitskräfte auf den Feldern. Es meldeten sich Linke aus Deutschland, um zu helfen.

Im Juli 1979 marschierten die Kämpfer und Kämpferinnen der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN in Nicaragua nach jahrelangen Kämpfen gegen die Nationalgarde des Diktators Anastasio Somoza siegreich und unter dem Jubel der Massen in Managua ein. Sie proklamierten Blockfreiheit und eine gemischte Wirtschaft, sagten Armut und Analphabetismus den Kampf an und mussten sich gleichzeitig militärisch gegen die von den USA unterstützten Contras zur Wehr setzen.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Contra-Angriffe rief die sandinistische Regierung um den Ex-Guerillero Daniel Ortega im November 1983 dazu auf, das Land durch die Entsendung internationaler Arbeitsbrigaden zu unterstützen. Aus der Bundesrepublik meldeten sich spontan mehr als 1000 Interessierte. Ein Treffen von Unterstützergruppen legte fest, dass 145 Leute die erste Brigade bilden und bei der Kaffeeernte helfen sollten. Aus Göttingen fuhren wir zu dritt. Keiner von uns konnte ahnen, dass Nicaragua Jahrzehnte später wieder zu einer Diktatur verkommen würde – unter dem Diktator Daniel Ortega.

Am 19. Dezember 1983, dem Vortag der Abreise, kam die Brigade in Bonn zusammen. Sie brauchte natürlichen einen passenden Namen. Nur welchen? Eine halbe Nacht lang stritten wir erbittert in einer Kneipe namens »Harmonie«. Als alle entnervt waren und niemand mehr an eine Einigung glaubte, kam am frühen Morgen doch noch ein Kompromiss zustande: Die Brigade hieß »Todos Juntos Venceremos«, also »Gemeinsam werden wir siegen«. Niemand fand den Namen richtig gut, aber die Alternative war, ohne Namen loszufliegen.

Diese Debatte blieb nicht die einzige. Eine weitere Frage, die es vorab zu entscheiden galt: Dürfen sogenannte »Promis« und Journalist*innen von bürgerlichen Medien mitkommen? Henning Scherf, damals Senator für Soziales in Bremen, der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Hansen und der linke Tübinger Theologe Norbert Greinacher hatten Interesse bekundet, ebenso zwei Reporter vom »Stern« und eine freie Mitarbeiterin des »Spiegel«. Wir einigten uns darauf, dass »Promis« und Presseleute mitfliegen, aber wie alle anderen beim Kaffeepflücken helfen müssen.

Bis auf die kubanische Airline »Cubana« wollte keine der angefragten Fluglinien die Brigadist*innen transportieren. Das Flugzeug musste zudem in Luxemburg starten, die Bundesregierung hatte eine Starterlaubnis für westdeutsche Flughäfen verweigert. Als sich die Brigade vor der Busfahrt nach Luxemburg zu einer Abschiedskundgebung in der Bonner Innenstadt versammelte, griff die Polizei unvermittelt mehrere Teilnehmer an. Drei Menschen wurden verletzt, zwei weitere festgenommen.

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Am 21. Dezember um neun Uhr morgens Ortszeit landete die Brigade in Managua. An der Gangway des Flugzeugs wartete der nicaraguanische Kultusminister Ernesto Cardenal. Wir stellten uns auf und rollten Fahnen und Transparente aus. Ganz vorne spannten wir ein Banner auf, das erst im Flugzeug fertig geworden war. »Los Hijos de Marx saludan a los Hijos de Sandino« stand da drauf, »Die Kinder von Marx grüßen die Kinder von Sandino«. Cardenal begrüßte alle mit Handschlag und umarmte Henning Scherf, den er von dessen früheren Nicaragua-Reisen kannte.

Am nächsten Tag wurde die Brigade aufgeteilt, offene Lastwagen brachten die einzelnen Gruppen zu verschiedenen Fincas im Norden Nicaraguas. Eng aneinander gepresst, saßen wir auf der Ladefläche, sangen, rauchten. Jemand reichte eine »Barricada« herum, die Tageszeitung der FSLN, auf der Titelseite waren Bilder von unserer Ankunft abgedruckt. An einem Militärposten begrüßten sandinistische Soldaten die kleine Lkw-Karawane mit Schüssen und Feuerwerk.

Zusammen mit 40 weiteren Brigadist*innen landeten wir in »Oro Verde« in der Provinz Estelí. Der Hof, ein staatlicher Betrieb, lag in den Bergen in einem Talkessel, die Grenze zu Honduras war nicht weit entfernt. Die Kaffeeplantagen waren verwildert, ein junger Sandinist musste mit einer Machete den Weg zu den Büschen bahnen, bevor wir, noch unbeholfen, die ersten reifen Kaffeekirschen abpflücken konnten. Wir schliefen in einem Speicher, in dem Mais und Kaffeebohnen gelagert wurden. Und in dem es von Ratten wimmelte. Aus einer Wand im Keller ragten zwei rostige Rohre, die Duschen.

Kurz nach Weihnachten wurde die Gruppe noch einmal aufgeteilt. Wir kamen auf die Finca »La Laguna«. Noch im Dunkeln sammelten wir uns morgens auf dem Hof und marschierten, gemeinsam mit nicaraguanischen Frauen und Kindern in die Kaffeefelder. Später kam Vorarbeiter Andrés angeritten, in den Satteltaschen Tortillas, Reis und Bohnen fürs Mittagessen. Wir diskutierten, ob unsere Arbeit hier kontraproduktiv sei. Also, ob das, was wir verzehrten, das revolutionäre Nicaragua volkswirtschaftlich unter dem Strich nicht mehr belaste als ihm die paar von uns gepflückten Säcke Kaffee einbringen. Wir einigten uns darauf, das so zu sehen: Unsere Arbeit hier hat symbolischen und politischen Wert, keinen ökonomischen.

Statt Kaffee zu pflücken, pflanzten wir öfter auch Kartoffeln auf kargen Äckern oder besprühten den schon aus der Erde sprießenden Wildwuchs mit Pestiziden. Das Zeug war giftig, roch extrem und brannte in den Augen. Aber niemand protestierte dagegen. Die Arbeitsbrigaden waren schließlich nicht gekommen, um den Leuten hier Lehren in ökologischem Landbau zu erteilen.

Das Wetter war über Wochen schlecht. Es regnete ununterbrochen, der Hof war verschlammt. Einige kränkelten. Andere schrieben, anstatt zur Arbeit zu gehen, ihre Tagebücher voll oder Artikel und Briefe, die jemand mit nach Deutschland nehmen sollte. Wieder andere mussten unbedingt nach Estelí, um ihre Schuhe neu besohlen oder putzen zu lassen. An manchen Tagen trat morgens nur die Hälfte der Brigade an.

Bei den abendlichen Brigade-Plena ging es immer wieder um die Arbeitsmoral. Beschlossen wurde schließlich, dass alle zum Arbeiten hier seien und ein Fernbleiben nur in begründeten und vom Plenum zu billigenden Ausnahmefällen zulässig sei.

Mitten in einer Nacht fielen fünf, sechs Schüsse. Dann hämmerte jemand draußen auf den eisernen Gong. Jetzt geht es los, dachten wir, jetzt kommen die Contras. Von unserem Schlafspeicher aus spähten wir durch die Ritzen der Bretter. Auf dem Hof hasteten Leute umher. Hoffentlich sind es »unsere« Leute vom sandinistischen Heer, das in der Nähe von »La Laguna« einen Posten hatte. Auch von weiter entfernt hörten wir Schüsse. Einige aus der Brigade waren drauf und dran, einen Ausfall zu wagen, rüber ins Steinhaus, das besseren Schutz bot. Nach fünf Minuten war die Knallerei vorbei.

Am nächsten Morgen erzählten die Soldaten Gruselgeschichten: »500 Contras haben angegriffen«, sagte einer. Und ein anderer: »Ein großer Löwe war auf dem Hof«. Später erfuhren wir, was wirklich los war. Einer der Militärs im Unterstand meinte im Dunkeln Gestalten bemerkt zu haben, die nicht stehen blieben, als er sie anrief. Der Soldat schoss, die Fremden, wenn es denn welche waren, rannten weg. Die späteren Schüsse wurden aus Nervosität abgegeben.

Jeden Tag wurden zwei aus der Brigade zum Küchendienst abgestellt. Man half beim Reisputzen, Tortillabacken und Abwaschen. Dabei bot sich die Gelegenheit, mit den Frauen, die fest in der Küche arbeiteten, zu plaudern und zu scherzen und dabei so viel Kaffee zu trinken, wie man wollte. Wenn die Kaffeepflücker morgens losgezogen waren, die Luft also rein war, kamen die Soldaten auf den Hof. Sie schlachteten manchmal ein paar Hühner oder brieten sich in der Küche Fleischspieße. Das Fleisch war abends alle, die Kaffeepflücker bekamen wie immer Tortillas, Mais und Bohnen.

Der 19. Februar war der 50. Todestag des historischen Guerillaführers Augusto César Sandino. An diesem Tag sollte auch das politisch-kulturelle Abschlussprogramm für die Brigade in Managua beginnen. Im Vorfeld gab es mal wieder Streit. Sollten wir bis zum 19. Februar in »La Laguna« bleiben oder schon eine Woche früher abreisen, um auf eigene Faust noch ein wenig das Land zu erkunden? Diejenigen, die bis zum Schluss Kaffeepflücken wollten, argumentierten, dass wir eine Arbeitsbrigade seien und den revolutionären Alltag mit seinen Mühen auf dem Hof viel besser kennenlernen könnten als bei einer Rundreise. Die anderen sagten, dass man auch mal was anderes als den Hof sehen müsse, um bis zur Rückkehr ein vollständiges Bild von Nicaragua zu erhalten. Es gab keine Einigung, das Ganze endete mit einem Eklat: Einige rannten raus, holten die Brigadefahne vom Dach ein, knallten sie zusammengeknüllt auf den Küchentisch und erklärten ihren Austritt.

Zum Abschiedsfest kamen dann hunderte Leute aus den umliegenden Dörfern. Ein frisch geschlachtetes Rind wurde angefahren, es gab Obstsalate, Kaffee und Rum. Dann wurden wir einzeln nach vorn gerufen, um Geschenke in Empfang zu nehmen: kleine Figuren aus Stein, Aschenbecher, Schnitzereien. Charly, der am besten Spanisch sprach, hielt eine politische Dankesrede.

Bei der zentralen Feier zum 50. Todestag Sandinos im Theater Rubén Darío in Managua herrschte eine euphorische Stimmung. »Sandino ayer, Sandino hoy, Sandino siempre« und »Sandino vive, vive, vive – la lucha sigue, sigue, sigue«, wurde lautstark skandiert. Als Daniel Ortega und Ernesto Cardenal zusammen mit weiteren sandinistischen Größen in den Saal kamen, standen alle auf und jubelten. Unter den geladenen Ehrengästen, die sich durch die Menge nach vorne schoben, war auch Hans-Jürgen Wischnewski, die Allzweckwaffe der SPD für internationale Angelegenheiten. Plötzlich ein Schrei von der Stelle, wo unsere Brigade angetreten war: »Ben Wisch, das Schwein von Mogadischu!« Wischnewski hatte im »Deutschen Herbst« 1977 in Verhandlungen mit der somalischen Regierung erreicht, dass das deutsche Sondereinsatzkommando GSG 9 die von Palästinensern zur Freipressung von RAF-Gefangenen entführte Lufthansa-Maschine »Landshut« stürmen konnte.

Der Zwischenfall im Theater verursachte diplomatische Verwerfungen. Die Sandinisten bestanden darauf, dass eine zum Abschluss des Nicaragua-Aufenthalts geplante Demonstration vor der BRD-Botschaft nicht stattfinden durfte. Warum, wurde so erklärt: Die Bundesregierung setze, anders als die USA, bislang auf eine friedliche Lösung der Konflikte in Mittelamerika. Die fragile Beziehung zwischen dem revolutionären Nicaragua und der Bundesrepublik würde aber, nach der »Sache« mit Wischnewski, einer neuerlichen Belastung wie einer Demonstration nicht standhalten. So sah die sandinistische Realpolitik aus.

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