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Am Wismarer Mühlenteich: Die Welt zurück auf Werkseinstellung
Wie weit muss man reisen, um in der Wildnis zu landen? In Wismar genügt ein kurzer Spaziergang zum Mühlenteich. Doch das Idyll ist in Gefahr
Urplötzlich ist der Himmel von einem mächtigen Brausen und Rauschen erfüllt. Hunderte Blässgänse steigen von den frostrissigen Feldern der nahen Bauernhöfe auf, nehmen Kurs und flattern laut rufend über die Köpfe der Wanderer hinweg. Das Pfeifen des Windes unter ihren Flügeln schwillt an, als die Vögel den Teich erreichen. In einer einzigen gewaltigen Schwarmbewegung drehen sie sich über dem Wasser ein und setzen schließlich zur Landung an; und weil eine grelle Wintersonne die helle Unterseite der Gänsekörper blendend weiß kalkt, scheint es, als ginge gerade ein massiver Schneefall hernieder. Unter empörtem Geschnatter machen blauschnabelige Reiherenten den Neuankömmlingen Platz. Die beiden im graubraunen Schilf gut getarnten Graureiher bleiben von dem ganzen Aufruhr unbeeindruckt, doch das Reh, das eben noch starr wie in Harz gegossen stand, nutzt die Gelegenheit zum raschen Rückzug hinter die Hecken.
Mecklenburg-Vorpommern ist nicht eben arm an landschaftlichen Schönheiten. Knapp zwei Kilometer vom Zentrum der Hansestadt Wismar entfernt, umzingelt von mehrspurigen Straßen, Schrebergärten, Wohnhäusern, Bahngleisen und einer Autobahn, rechnet man jedoch höchstens mit gestressten Städtern, doch ganz sicher nicht mit einem so außergewöhnlichen Naturreich wie dem des Mühlenteichs. Dieser entstand bereits im Mittelalter, als für den Betrieb von Wassermühlen Stauwehre entlang des Wallensteingrabens errichtet wurden. So bildeten sich offene Gewässer, aus denen das heutige Naturreservat Wismar-Kluß hervorging. Das rund 228 Hektar große Feuchtgebiet mit Fischteichen, Bruchwäldern, Torfbänken und Wiesen entwickelte sich zu einem wichtigen Brut- und Mauserplatz für Sumpf- und Wasservogelarten, denen Unken, Kröten, Nattern, Igel, Fischotter und Fledermäuse gern Gesellschaft leisten.
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Wer so alles am Mühlenteich Fische fängt, grast, nistet, laicht, schleicht und schläft, kann man auf einem sechs Kilometer langen Rundweg erkunden. Erlebnishungrige Touristen trifft man dort eher selten, sondern vor allem Wismarer in Alltagslaune, die joggen, mit ihren Hunden spazieren gehen oder einfach am Ufer stehen und ihre Tagträume als Treibgut über den Teich schicken.
Das Aquarell des Wassers ist zu allen Jahreszeiten ein wunderbares Mittel gegen Melancholie, doch an kristallklaren Wintertagen ist der Mühlenteich von einem speziellen Zauber umgeben. Herbststürme und Nachtfrost haben längst alle Blätter von den Bäumen gefegt. Kahle schwarze Äste heben sich gegen einen eisblauen Himmel ab wie ein besonders filigraner Scherenschnitt, und zarte Eisklümpchen kandieren Zweige und Sträucher. Bei einer mittleren Tiefe von nur zwei Metern ist das Gewässer nicht immun gegen eisige Kälte, und so rutschen Möwen und Enten auch schon mal tollpatschig wie im Comic über die zugefrorenen Flächen.
Wenn dann noch fedrig leichter Schnee herabrieselt, sich zu weißen Polstern türmt und die silbrig-weiße Idylle völlig neu gestaltet, spielt die Teichlandschaft norwegischer Fjord. Die geflügelten Zigarren am Himmel, die zu ihren Schlafplätzen auf den beiden kleinen Inseln im südlichen Teichbecken ziehen, sind Kormorane, aber war das gerade ein Falke oder ein Habicht, der aufgeschreckt davonflog? Für die Ornithologieprüfung reicht es noch lange nicht, aber die wohl wichtigste Lektion lernt sich schnell am Mühlenteich: Wer die Wildnis nur in abgelegenen Nationalparks, Regenwäldern und Wüsten sucht, bleibt blind für die Feder eines Eichelhähers im Spinnennetz, für die roten Leuchtsignale der Hagebutten oder für einen lavendelfarbenen Dezemberhimmel.
Unter Wildnis verstehen wir ungezähmte Landschaften, frei von menschlichen Einflüssen. Solche Gegenden sind Metaphern für Freiheit. Aber die unverfälschte, vollkommen makellose Wildnis gibt es nicht mehr. Jede Insel, jeder Wald, jede Wüste und jeder Gipfel wurde von Menschen besucht, bewohnt und bearbeitet. Uns bleiben Naturreste, die in Hinterhöfen, Parks und Friedhöfen überleben, Teilzeit-Idyllen am Stadtrand wie der Mühlenteich. Die Schönheit seiner hinreißenden Winterwelt erobern Wildnissucher sich langsam und auf leisen Sohlen, und die Romantik würde ihnen glatt auf dem Fuß folgen, wäre da nicht ein Rauschen und Summen, das sich in unregelmäßigen Wellen über die Landschaft legt – der Klang des Verkehrs. Bei weitem nicht lärmig genug, um die Nerven von Stadtbewohnern zu strapazieren, die an die Zumutungen eines akustisch ungepflegten Alltags gewöhnt sind. Und allen, denen eine viel zu hektische Welt wieder einmal zu nahe getreten ist, gewährt der Mühlenteich auch weiterhin eine zuverlässige Zuflucht – und dennoch: Wie wunderbar wäre es, könnten wir die Welt auf Werkseinstellung zurücksetzen? Dieser Gedanke huscht vorbei wie der scheue Hase am Wegesrand, den man nur kurz aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Schon wieder weg.
In der Ära schrumpfender Naturkontakte und enorm gestiegener Bildschirmzeiten, in der Autos und Straßen die Abgeschiedenheit beinahe vollends abgeschafft haben, droht die Stille auch an den Ufern des Mühlenteichs endgültig zu sterben, wenn eines der wichtigsten Verkehrsprojekte Mecklenburg-Vorpommerns so realisiert wird wie bislang geplant – der Ersatzneubau der Wismarer Hochbrücke. Die alte Brücke verläuft an der Nordseite des Teichs. Sie ist eine der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt, aber so marode, das sie bereits vor über einem Jahrzehnt für den Schwerlastverkehr gesperrt wurde.
Nun steht der Abriss an. Der Neubau soll in südlicher Parallellage zur bestehenden Brücke und damit direkt über den Mühlenteich verlaufen. Ein massiver Eingriff in das Ökosystem des Landschaftsschutzgebietes, denn die Belastung durch Feinstaub und Lärm wäre immens. Die Geräusche unserer Mobilitätsexzesse würden zum Bordun-Ton des Mühlenteichs, zum Grundthema des Lebens in dieser Miniatur-Wildnis. Wenn Zivilisationsradau die natürliche Kulisse permanent übertönt, erschwert er die akustische Verständigung unter Vögeln. Ihre Rufe aber sind wichtig für die Partnersuche, zur Abgrenzung des Reviers und zur Kontaktaufnahme zwischen Eltern und Jungtieren. Misserfolge bei der Fortpflanzung führen schlimmstenfalls dazu, dass Eisvogel, Tüpfelralle und andere Tiere den Mühlenteich verlassen. Zurück bliebe ein naturidentischer Raum als Begräbnisstätte für die Stille mit einer Brücke als Grabstein.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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