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Auf keinen Wasserfall
Ist das Kunst oder Kitsch? Die Kunsthalle Rostock richtet der Bildhauerin Anna Bogouchevskaia mit »Fallen Falls« ihre erste Retrospektive aus
Die Streicher-Musik, die gerade einen Teil der Ausstellungsräume der Kunsthalle Rostock beschallt, klingt dramatisch. Komponiert wurde sie von Bruno Coulais, der für seinen Song »Vois Sur Ton Chemin« im Film »Die Kinder des Monsieur Mathieu« (2003) für einen Oscar nominiert wurde. Die hier hörbaren Töne allerdings stammen aus dem Natur-Dokumentarfilm »Mikrokosmos – Das Volk der Gräser« von 1996. Dieser zeigt, an eine Wand projiziert, das Insektenleben auf einer Wiese in Frankreich aus nächster Nähe. Wir können zum Beispiel dabei zusehen, wie Ameisen Bucheckern transportieren oder Mistkäfer ihre Dungkugeln rollen.
Die 57-jährige russische Bildhauerin Anna Bogouchevskaia, der die Kunsthalle Rostock ihre erste Retrospektive widmet, hat sich von dem Film für einige ihrer Arbeiten inspirieren lassen. Das wird deutlich – vielleicht zu deutlich –, wenn man sich im Raum umsieht: An der Wand neben der Projektion etwa hängen Reliefs, die jeweils einen Hirschkäfer, eine Heuschrecke und eine Eidechse vor bronzenem Hintergrund zeigen. Und nicht weit davon sind mannigfaltige, ebenfalls zumeist recht naturalistisch gearbeitete Pflanzenskulpturen aufgebaut. Würden sich diese wohl auch im heimischen Wohnzimmer gut machen? Wer ein Faible für rustikale Naturdeko hat, wird sicher etwas Ähnliches auf Etsy finden.
Die Ästhetik eines anliegenden Raumes, den die Musik ebenfalls in Pathos taucht, ist da schon etwas weniger alltagstauglich. Hier sind ausschließlich zwei Farben zu sehen: das Grau der Wände und des Bodens sowie in der Mitte gleißendes Silber, geteilt in quadratische Flächen, die etwa hüfthoch auf Sockeln angebracht sind. Jedes Quadrat zeigt einen Teil einer Wasseroberfläche, auf die Tropfen aufschlagen oder aus der Tropfen herausspringen und darin ganz unterschiedliche Gestalt angenommen haben. Bogouchevskaia hat hier Vorgänge, die sonst aufgrund ihrer Flüchtigkeit und der Größe der Tropfen kaum beobachtbar sind, gleichsam herangezoomt und eingefroren. Und so aus der Nähe betrachtet offenbaren sich assoziationsreiche Formen: Es könnten auch Pilze oder Blütenstengel mit symmetrischen Krönchen sein, die aus der Silberoberfläche wachsen; ein Gebilde gleicht einer menschlichen Figur mit rundem Kopf und kegelförmigem Hut.
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Beeindruckender noch als die quadratischen Silberflächen mit ihren Tropfen sind allerdings die Arbeiten aus der jüngsten Schaffensperiode Bogouchevskaias. Sie bestehen ebenfalls größtenteils aus Silber, geben sich allerdings etwas widerspenstiger, teilweise sind ihre Oberflächen rauer und dadurch weniger spiegelnd. Es handelt sich um Nachbildungen realer Wasserfälle, doch durch das metallene Material, den veränderten Maßstab und die Stilllegung der Bewegung wird daraus überaus Fremdartiges. Ein Schwert aus Kugeln reckt sich senkrecht in die Höhe, Hände scheinen sich aus Kaskaden zu strecken, ein Konstrukt könnte auch eine Art abenteuerlich gebautes Teleskop aus Kerzenwachs darstellen. Fließt hier etwas von oben nach unten oder von unten nach oben? Hinter dem Ausstellungstitel »Fallen Falls« lässt sich eine Dialektik vermuten.
Angesichts dieser faszinierenden Objekte, die sich – wüsste man nichts über sie – jeder einfachen Deutung entzögen, wirkt der Text, der ihnen beigefügt ist, auf die hier schreibende Besucherin doch einigermaßen platt. Wasserfälle würden durch den Klimawandel und den Bau von Kraftwerken zum Verschwinden gebracht, ist zu lesen, und die Motivation der Künstlerin sei es, auf diese Prozesse aufmerksam zu machen. Dann werden bedrohte Wasserfälle aufgezählt – die Niagara-Fälle zum Beispiel oder die Victoria-Fälle in Südafrika. Aber steckt in diesen Arbeiten nicht viel mehr? Ihre ganze Wunderlichkeit scheint nun in den Hintergrund zu treten. Der Autor beziehungsweise in diesem Fall die Künstlerin ist zwar nicht tot, wie Roland Barthes behauptete, aber mitunter empfiehlt es sich, seine beziehungsweise ihre Intention im Dunkeln zu lassen.
Die Ausstellung führt chronologisch durch das Schaffen Bogouchevskaias, die die Tochter des russischen Bildhauerehepaares Ninel Bogouchevskaia (1923–1987) und Daniel Mitljanski (1924–2006) ist und deshalb schon früh zur künstlerischen Elite Moskaus gehörte. 1994 siedelte sie aus der russischen Hauptstadt nach Berlin über, wo sie bis heute lebt. Betrachtet man ihre Werke der Reihenfolge nach, lässt sich eine Entwicklung hin zu abstrakter wirkenden Formen erkennen. Enthielten die frühen, vom Familienfreund Marc Chagall inspirierten Arbeiten noch menschliche Figuren – etwa auf Reliefs, die Mahlzeiten an gedeckten Tischen aus der Vogelperspektive zeigen –, sind die zuletzt geschaffenen Wasserfallskulpturen zweifellos die enigmatischsten Objekte.
Aus der Zeit dazwischen stammt so einiges, anhand dessen sich gut über die Grenzen von Kunst zu Dekoration und Kitsch nachdenken lässt. So wirken einige Objekte mit ihren glatten Oberflächen und Tierfiguren – etwa Pinguine, die in einer Reihe auf den Klippen eines Silberblocks entlangwatscheln oder das eingangs erwähnte Reliefgetier – doch allzu gefällig. Und auch in Bezug auf die silbern springenden Tropfen lässt sich der Kitschverdacht nicht ganz entkräften. Denn auch wenn die Künstlerin hier den Maßstab verändert und die Bewegung eingefroren hat, handelt es sich ja einfach um eine Reproduktion. Die Natur erscheint im Bildnis zwar gewissermaßen verfremdet, wird von Bogouchevskaia jedoch nicht interpretiert.
Die Bildhauerin selbst versteht ihre Skulptur, wie man an einer Ausstellungswand lesen kann, als »Post-Impressionismus«, weil sie sich wie die Impressionisten Naturphänomenen, flüchtigen Momenten und changierenden Oberflächen widme. »Mir gefällt (...), dass es die Impressionisten waren, die Wegbereiter der Oktoberrevolution wurden«, wird sie zitiert. Um heute ästhetisch an einer Revolution mitzuwirken, müsste man allerdings wohl zu anderen Mitteln greifen.
»Fallen Falls«, bis zum 10. März 2024, Kunsthalle Rostock
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