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Bericht von den Grenzen Gazas: Im Niemandsland

Die weitere Verkleinerung des Gazastreifens durch eine von Israel favorisierte »Pufferzone« birgt neues Konfliktpotenzial

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 9 Min.
Schon jetzt praktisch eine Pufferzone: das seit den Hamas-Angriffen des 7. Oktober evakuierte Gebiet um die israelische Stadt Sderot nordöstlich des Gazastreifens, wo sich Israels Streitkräfte mit Panzern formieren.
Schon jetzt praktisch eine Pufferzone: das seit den Hamas-Angriffen des 7. Oktober evakuierte Gebiet um die israelische Stadt Sderot nordöstlich des Gazastreifens, wo sich Israels Streitkräfte mit Panzern formieren.

Obwohl nichts auf ein Ende des Kriegs zwischen Israel und der Hamas hindeutet, gibt es inzwischen Informationen über ein israelisches Konzept für einen Nachkriegs-Gazastreifen. Dieses soll dem Weißen Haus in Washington vorliegen. Es sieht die Errichtung einer sogenannten Pufferzone zwischen Israel und dem Gazastreifen vor, die das Territorium des palästinensischen Gebietes weiter verkleinern würde. Solange niemand sonst die Pläne im Detail begutachten durfte, lässt sich mit Kenntnis der Grenzgebiete nur erahnen, was das konkret bedeuten würde. Zum Beispiel in Sderot und am nahe der Stadt gelegenen Grenzübergang Erez.

Von Sderot aus sind es nur zwei Kilometer bis zum Gazastreifen. Hier gibt es weder Pensionen noch Hotels, da kein Tourist sich hierher verirrt. Das Gemeindehaus ziert eine Chanukka-Leuchter-Installation aus Raketenteilen. Von den Hügeln am Stadtrand hat man einen guten Blick auf Gaza. In den früheren Kriegen zählten die Bewohner von dort aus gern Raketentreffer. »Cinema Sderot« nannte man diese Mauerschau. Jetzt ist die Stadt weitgehendevakuiert. Auch hier brachen am 7. Oktober Hamas-Kämpfer ein und bis zur Polizeistation vor, töteten Polizisten und Zivilsten, darunter einen arabischen Bauarbeiter, der einer jüdischen Familie zu Hilfe kommen wollte.

Acht Kilometer nordöstlich von Sderot liegt der jetzt geschlossene Grenzübergang Erez. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man dort nicht hin, und auch vor dem 7. Oktober wollten nicht alle Taxifahrer einen bringen. Auf israelischer Seite wirkt der Ort wie ein verlassener kleiner Flughafen, hinter dem eine Art Pufferzone liegt: Niemandsland, durch das ein kilometerlanger schmaler vergitterter Gang führt. Rechts und links Ödnis.

Durch diese Zone konnte man sich in kleinen Gepäckwägelchen fahren lassen, die den Korridor entlang rollten. Ging man ihn zu Fuß, hatte man Zeit, sich auf die Welt »drüben« einzustellen. Im Frühjahr sah man außerhalb des Ganges vereinzelt Hirten mit Ziegen, die auf Teppichen saßen, Tee tranken und rauchten. Für einen Augenblick vergaß man dann, wer in Wahrheit hinter Gittern sitzt, erinnerte sich aber wieder daran, wenn sie einem aus der Ferne Grüße an internationale Fußballstars auftrugen. Die Assoziation eines unendlichen Rattenkäfigs drängte sich auf, der sich schließlich zu einem improvisiert wirkenden palästinensischen Kontrollpunkt auf Containerbasis öffnete. Für weitere zwei Kilometer musste man ein Taxi nehmen, um schließlich am eigentlichen Grenzübergang der palästinensischen Seite in Beit Hanoun von der Hamas die Einreise in den Gazastreifen bewilligt zu kommen.

Sähe eine spätere Pufferzone ähnlich aus, nur ohne Hamas-Grenzbeamte und Hirten? Israels Premier Benjamin Netanjahu, der die immer klarere Kritik aus den USA an seiner Kriegführung ignoriert, besteht auf israelischer Kontrolle Gazas. Die Pufferzone würde in jedem Fall auf Kosten des Gaza-Territoriums gehen. Die USA weisen diesen Plan jedoch zurück. Auch Umsiedlungen von Palästinensern werde man nicht zustimmen, heißt es aus Washington.

Der Grenzübergang Erez ist seit dem 7. Oktober geschlossen. Er war es aber auch schon vorher weitgehend. Menschen aus Gaza, die eigentlich eine Arbeitserlaubnis in Israel hatten, konnten dadurch nicht zu ihren Arbeitsplätzen gelangen und blieben ohne Lohn.

Ausweglose Lage in Rafah

40 Kilometer von Erez entfernt an der südlichen Grenze des Gazastreifens liegt der Grenzübergang Rafah. Die geteilte Stadt liegt teils im Gazastreifen, teils in Ägypten. Der Nachbarstaat hat klargemacht, dass er trotz der katastrophalen Versorgungslage keine palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen werde. Er ist dennoch für viele die einzige Perspektive, um den Krieg zu überleben.

»Es muss einen Ausweg geben, es geht um Leben und Tod«, sagt Mohamed O. Der Arzt kam 2018 von Gaza nach Deutschland und arbeitet in einem Berliner Krankenhaus. Seit Wochen versucht der 30-Jährige vergeblich, seine Familie aus Gaza in Sicherheit zu bringen. »Überall in Gaza fragt man Freunde und Bekannte: ob jemand wen kennt, der jemand kennt bei der ägyptischen Grenzpolizei. Oder ob Freunde außerhalb von Gaza mit Geld helfen können.« Bestechung sei der einzige Weg. Vor ein paar Monaten, als Mohamed erstmals seit fünf Jahren seine Familie besucht hatte, kostete die inoffizielle Aus- oder Einreise noch 500 US-Dollar pro Kopf. »Jetzt sind es 6000«, erzählt Mohamed. »Wer kann sich das leisten?«

Deeb E., ein junger Familienvater in Gaza, der mit Frau und Kindern in einem Flüchtlingslager in Rafah untergekommen ist, spricht gar von 8000 Dollar. Das Geld streichen in erster Linie ägyptische Grenzbeamte ein. Die Frage, Gaza zu verlassen, stelle sich bei dieser Summe für kaum jemanden, sagt Deeb und fügt hinzu: »An das, was nicht in Frage kommt, muss man nicht Gefühle oder Zeit verschwenden.«

Dabei ist es angesichts der täglichen Bombardements schwer, in Rafah nicht an diese Option zu denken. Aber Deeb sagt auch: »Wenn wir fortgehen, dann haben wir das letzte verloren, das wir noch haben: dieses bisschen Land.« Er sagt es ohne Vorwurf, ohne Pathos in der Stimme. Es ist eine ruhige Feststellung über den Wert, den Gaza für ihn immer noch hat.

Der Wert von Gaza

Bis vor knapp drei Monaten türmten sich direkt hinter der Grenz-Einöde bei Erez Wohnblöcke auf – jetzt wieder dem Erdboden gleichgemacht. Daraus hervor ragen jetzt wie Gerippe die durch Artilleriebeschuss entkernten Hochhäuser. Eine Stadt geht in die andere über, dazwischen Flüchtlingscamps, die ebenfalls zu kleinen Städten geworden sind zwischen sehr vielen Kriegen.

Der Gazastreifen, mit einer Ausdehnung von 40 Kilometern von Norden nach Süden, ist im Westen vom Mittelmeer begrenzt. An dessen oft überraschend leeren Stränden warfen Sardinenfischer ohne Aussicht auf viel Erfolg ihre Netze aus, zogen Plastikflaschen heraus und warfen sie wieder ins Wasser. Der meiste Fisch, den man in Gaza jenseits des Hafens kaufen kann, wird absurderweise aus Südamerika importiert.

Hinausfahren durften Fischer in Gaza ohnehin nur fünf Seemeilen weit, eine nicht sehr ergiebige Zone. Zudem mussten sie mit Schüssen von israelischen Militärbooten rechnen. In Krisenzeiten wurde das Areal, in dem gefischt werden durfte, weiter verkleinert oder die Ausfahrt gänzlich verboten.

Das Meer aber könnte in Zukunft mehr bieten als Fisch. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges hatten Israel, Ägypten und die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland über die zukünftige Nutzung von Erdgasvorkommen 20 Meilen von Gazas Küste entfernt verhandelt – freilich über den Kopf der dort herrschenden Hamas hinweg. Ein lukratives Geschäft für diejenigen Kräfte, die nach dem aktuellen Krieg Zugriff auf die Lagerstätten haben – und ein Keim für künftige weitere Konflikte.

Lässt man die Stadt Gaza im Norden des Gazastreifens hinter sich und fährt die Küstenstraße Al Rashid gen Süden, verschmälert sich der Streifen auf nur fünf Kilometer Breite. Es ist schwer vorstellbar, dass das dicht besiedelte Gebiet für eine Pufferzone noch weiter verknappt werden kann.

Östlich der Grenze liegt auf israelischer Seite hingegen viel vermeintliches Niemandsland in der Negev-Wüste. Hier befinden sich ein Agrarforschungszentrum, Ausgrabungsstätten und Monumente, die an vergangene Kriege erinnern. Zu einem Aussichtsturm auf dem Areal eines Mahnmals für an Militäroperationen im Jahr 1917 Beteiligte schrieb ein Rezensent bei Google Maps vor dem 7. Oktober: »Eine wunderschöne Aussicht auf Gaza. An klaren Tagen hört man Schüsse.« Ein anderer fand, die Mülldeponie von Gaza beeinträchtige die Aussicht.

Ein anderes Mahnmal ist der Operation Black Arrow von 1955 in den Flüchtlingslagern im Grenzgebiet des Gazastreifens gewidmet, der damals unter ägyptischer Kontrolle stand. Es war die Zeit nach dem Unabhängigkeitskrieg 1947 bis 1949. Israel hatte gesiegt, aber die Situation war wegen der Vertreibung Zehntausender Araber alles andere als friedlich. Hoffnungs- und Heimatlosiglosigkeit führten zu Hass und Aufruhr in den Camps. Der ägyptische Geheimdienst rekrutierte dort Männer für bewaffnete Aktionen, um den Konflikt mit Israel zu schüren.

Netanjahus Amtsvorgänger Ariel Sharon führte damals das Kommando über die israelischen Fallschirmjäger, die über 100 Angriffe auf arabische Dörfer ausführten und eine ägyptische Militärbasis in Gaza angriffen. Die Aktion, bei der knapp 40 Menschen starben, wurde, wurde vom Sicherheitsrat der UN scharf verurteilt. Das Denkmal auf israelischer Seite erinnert an die acht dabei getöteten israelischen Soldaten.

Jegliches Nachkriegskonzept im Sinne der aktuellen israelischen Regierung dürfte zu ganz ähnlichen Situationen wie jenen Mitte der 1950er Jahre führen. Wie in der damaligen Nachkriegszeit spielt auch heute das rote Meer eine Rolle, das momentan zur Kriegs-Spielwiese der Huthi-Rebellen aus dem Jemen geworden ist. Der Golf von Aqaba war damals für israelische Schiffe gesperrt, ein wirksames Druckmittel, damals wie heute.

Zu neuen Mahnmalen östlich des Gazastreifens wurden die von der Hamas attackierten Kibbuzim. Mehr als jedes Monument erzählen sie die Geschichte des 7. Oktober, an dem die Hamas und und die Terrormiliz Islamischer Dschihad unbeschreibliche Massaker anrichteten. Die Dorfanlagen wurden geräumt, man zeigt sie Delegationen, die sich ein Bild von der Grausamkeit der Massaker machen wollen.

Warnungen der US-Regierung

Eine künftige Pufferzone würde Gaza nicht zur Ruhe kommen lassen, und von den arabischen Ländern würde sie nicht gebilligt. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warnte Israel, ein kurzfristiger taktischer Sieg würde letztlich eine strategischen Niederlage bedeuten. »Einen Krieg, der in Städten stattfindet, kann man nur gewinnen, wenn man Zivilisten schützt«, mahnte er.

Die maßlose Grausamkeit des Massakers vom 7. Oktober hat Benjamin Netanjahu in einen ebenso maßlosen Krieg gegen die Hamas münden lassen, der wie nie zuvor auf Kosten der Zivilbevölkerung geht und humanitäre Katastrophen in Kauf nimmt.

Ich bekomme noch einmal Kontakt zu Deeb A. Er ist immer noch im Flüchtlingscamp in Rafah. Aber weil es dort an Wasser mangelt, ist er mit seiner Familie kurz im Haus eines Freundes untergeschlüpft, um dort zu duschen und sich Wasser abzufüllen – Leitungswasser, das man in Friedenszeiten, nicht trinken würde. Und um sein Handy aufzuladen. Ein Ausnahme-Augenblick mit Zeit für ein direktes Telefongespräch.

Die Verbindung ist gut, dennoch glaubt Deeb, sich verhört zu haben, als ich erzähle, dass sich einer Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer Stiftung zufolge 38 Prozent der Bewohner des Gazastreifens sich weiterhin eine Hamas-Regierung wünschen. »Jeder weiß, dass Hamas sich nicht für uns, die normalen Leute interessiert«, sagt Deeb. »Es ist ihnen egal ob wir sterben. Wieso sollten wir sie ausgerechnet jetzt mögen? Das sage nicht nur ich, so hören sich die meisten normalen Leute hier an. Das ist nicht unser Krieg! Wir erleben ihn nur.«

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