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Stockholm im Winter: Paddeln in der City
Wer den Städtetrip mit Outdoor und Wintersport verbinden will, hat in Stockholm kurze Wege
Theresa hat ihr Kajak ins Eis manövriert, es sitzt fest. Ihr Trick, sich auch bei klirrender Kälte fortzubewegen, indem man das Paddel ganz dicht am Bootsrumpf führt und das Eis senkrecht mit einem Wumms durchstößt, funktioniert nur noch unter Kraftanstrengung. Eigentlich könne man sich wie ein kleiner Eisbrecher knirschend fortbewegen. Geht jetzt aber nicht. Über Nacht war der Frost streng. Die feste Decke über dem See ist über zwei Zentimeter dick. Das hatte Theresa so nicht erwartet.
Doch schließlich kann sie sich befreien. Uff. Denn sie hat Gäste dabei, denen sie als Guide den Reiz des Winterpaddelns zeigen möchte – ein Angebot für outdoor-hungrige Reisende, die es auch dann nicht lassen können, wenn andere lieber vor knisterndem Kaminfeuer sitzen oder sich in einem behaglichen Gewölbe der unterkellerten Altstadt Stockholms, der berühmten Gamla Stan, in einem Café zum Glühwein oder einem Kaffee mit Zimtschnecken niederlassen.
Stockholm – das ist zur kalten Jahreszeit allein deshalb eine Reise wert, da seine Reize dann besonders gut wirken. Kein Nervenzusammenbruch droht, weil man in den überfüllten Gassen vor Besuchermassen für die Schönheit der alten Bauten fast blind wird. Kein Rummel auch in den Museen oder auf den allzeit omnipräsenten Gewässern der auf 14 Inseln gebauten Hauptstadt des Königreiches.
Im Sommer kann Stockholm in Sachen Overtourism mithalten. Im Winter? Da schläft die Stadt fast. Wer dann den geruhsamen Städtetrip mit Naturerlebnissen verbinden möchte, der ahnt allein schon beim Blick auf die Landkarte angesichts der zerklüfteten Topographie aus Wasser und Land: Das drängt sich förmlich auf. Die Jahreszeit sollte da keinen Unterschied machen.
Winterpaddeln im Schärengarten
»Tauchen Sie ein in die spektakuläre Natur, obwohl Sie nur 30 Minuten von Stockholm entfernt sind«, wirbt die Website des Kanu-Centers, für das Theresa arbeitet. »Wir gehen auch paddeln, wenn es minus 15 Grad sind«, sagt sie, als das Grüppchen aus drei Booten durch einen Gelee aus Eiswürfeln und Kaltwasser gleitet.
Dass Jędrzej Jurkowski, Chef des Kanu-Centers, den Betrieb das ganze Jahr über aufrechterhalten kann, liegt am Klimawandel und an freundlichen Nachbarn. Es ist mehr als 50 Jahre her, dass der Stockholmer Schärengarten das letzte Mal komplett zufror. Und bildet sich vor dem Ufer der Schäre des Bootsverleihs doch mal Eis, bricht ein Freund von der Insel gegenüber kleine Fahrrinnen auf. Und falls das Eis für dessen Boot zu dick wird, kutschiert das Team die Gäste zu Stellen, wo die Wasserwege für die Pendlerfähren freigehalten werden.
Gegen die Kälte muss man sich dennoch wappnen, die auf dem Wasser einen Zwiebel-Look der besonderen Art erfordert – Trockenanzug, Schwimmweste, zwei paar Handschuhe – innen aus Fleece, außen aus Gummi, Gummistiefel. Ein wasserabweisender Schlapphut über der Mütze gegen schmelzende Schneeflocken. Ein Spritzrock, der im Kajak über die Sitzöffnung gespannt wird.
Es beginnt zu schneien, als die Paddel-Abenteurer ihre Wasservehikel zum Steg tragen und die drängendste Frage loswerden: Was ist, wenn man ins zwei Grad kalte Wasser plumpst? Passiert fast nie, sagt Jędrzej. Fast? »Die Boote fahren sehr stabil«, beruhigt er schnell. Wenn man tatsächlich einmal – in der Horrorvorstellung Rumpf oben, Kopf unten – havarieren sollte, handele man als Mensch geistesgegenwärtig und könne sich aus dem Boot befreien, sagt Theresa. Okay.
Im Boot wird es einem aber erst mal warm. Im salzigen Wasser fordert das Paddel mehr Kraft ein, erst recht, wenn bei dünner Eisdecke doch mal Theresas Trick gefragt ist. Die Momente, in denen die Boote über offene Fläche gleiten, fühlen sich an, als hätte jemand eine Handbremse gelöst. Das Wasser ist glatt und wellenlos, das Vertrauen wächst.
Vorbei gleiten die Wasserwanderer an erstarrten Ufern. Zum Winter hin braun-gold gewordene Schilfgürtel säumen sie. Die Ähren leuchten weiß, hier hat sich der Schnee gesammelt. Wo Festland ist, wo nicht, lässt sich im Schärengarten, der aus rund 30 000 Inseln besteht, vom Boot aus kaum erkennen.
Eisangeln in der Hoffnung auf Meerforellen
Nur erahnen: Wo man weit und breit trotz Bebauung kein Auto sieht, könnte es sich um eines der rund 200 besiedelten Eilande handeln, deren Bewohner für tägliche Wege mit dem Boot übersetzen. So wie Helen und Bo Lundgren, die unweit vom Kanu-Center in der Hoffnung auf Meerforellen auch bei klirrender Kälte dick eingepackt mit Touristen fischen – vom Boot aus oder an Löchern, die sie ins Eis bohren.
Auf dem zweistündigen Paddeltrip aber zeigt sich keine Menschenseele. Auch auf dem Wasser, wo im Sommer zumindest im hauptstadtnahen Teil der Inselwelt Boote und Schwimmer hochfrequent kreuzen, sind die Kajaks völlig allein. Auch beim kurzen Bad in der kalten Ostsee, das nach dem anschließenden Gang in der Sauna des Kanu-Centers nicht fehlen darf.
Tour-Skating auf zugefrorenen Seen
Die Einsamkeit genießen lässt sich auch bei anderen winterlichen Aktivitäten im Dunst der Hauptstadt. Sind die Temperaturen schon länger unter dem Gefrierpunkt, bricht die Zeit des Tour-Skating an, zu dem sich die Schweden spezielle Schlittschuhe mit langen Kufen anziehen.
Das Langstrecken-Eislaufen auf Natureis entlang von Seen – Långfärdsskridskor – ist dann ein wahrer Volkssport. Auch im Süden Stockholms, eine knappe Stunde mit Bus und Bahn von der zentralen Metro-Station Slussen entfernt: Über die mäandernden Seen Magelungen oder Drevviken durch die Winterlandschaft zu gleiten, ist eine völlig andere Erfahrung als bei der Eisdisco in überfüllten Schlittschuhhallen.
Gunilla Kühner, Stadtführerin in Stockholm, aber auch passionierte Wintersportlerin, war diesen Winter schon auf dem Eis. Je strenger die Winter, desto näher rücken die geschlossenen Eisflächen an die Hauptstadt heran, sagt sie. Sind sie milder, muss man mit dem Auto ein bis zwei Stunden gen Norden fahren, um fündig zu werden.
Wracktauchen bei Minusgraden
Vor allem aber weiß Gunilla von einem anderen Hobby zu berichten: Tauchen. Im Winter, sagt sie, sei die Sichtweite besser. Unter Wasser sei es zwar kälter als im Sommer. Doch je weiter man abtauche, desto mehr relativiere sich der Unterschied zwischen Luft- und Wassertemperatur: »Die Bodentemperatur ist ›immer‹ kalt.«
Nahe Stockholm bieten Tauchbasen wie Captain Baltic in Dalarö oder Dykcharter in Tyresö auch in den Wintermonaten Tauchgänge an – »solange es eisfrei ist«, wirbt Dykcharter. Attraktion im Stockholmer Schärengarten ist der Dalarö-Tauchpark, Schwedens erstes »maritimes Kulturreservat«, wo Schiffswracks aus dem 17. Jahrhundert mit Flossen und Flasche in Begleitung eines ausgebildeten Wrackführers besichtigt werden können. In kalten Wintern friere die Ostsee um Dalarö zwar zu, sagt Gunilla. Doch weil Eisbrecher und Fähren zu einigen Inseln unterwegs seien, gebe es in der Gegend oft offene Stellen.
- Anreise: Von Deutschland aus gibt es zwei Nachtzugverbindungen. Die schwedische Staatsbahn SJ setzt ab Berlin täglich einen Euronight ein. Die Liegewaggons haben Abteile mit je zwei mal drei übereinanderliegenden Pritschen. Die Schlafwaggons bieten bezogene Doppelbetten, in denen man längs zur Fahrtrichtung nächtigt.
sj.se/en/travel-info/sj-euronight.html
Alternative ist der zwischen Ostern und Herbst privat betriebene Nachtzug Snälltåget.
snalltaget.se - Unterkunft: Charmant und dank der nautischen Sammlerexponate fast ein kleines Schifffahrtsmuseum ist das »Collector’s Victory Hotel« in der Altstadt, das für Selbstversorger auch Gästewohnungen mit Küche und großem Wohnbereich für bis zu sechs Personen anbietet; DZ ab 2050 Kronen/Nacht; Penthouse: 3950 Kronen bei Belegung zu viert.
https://victoryhotel.se/victory-hotel
Superzentral gelegen ist das »Hotel Frantz« am Verkehrsknotenpunkt Slussen, von wo aus zum Beispiel auch der Hammerbybacken in 20 Minuten mit Bus und Bahn zu erreichen ist; DZ ab 140 Euro/Nacht.
https://www.hotelfrantz.se - Winterpaddeln: Dreistündige Kajak-Touren kosten beim Skärgårdens Kanotcenter umgerechnet rund 115 Euro pro Person, das anschließende Saunieren mit Bad in der Ostsee noch mal 18 Euro.
kanotcenter.com/de/gefuhrte-touren/winter-kajakfahren-stockholm-scharengarten - Tauchen: Ein Bootstrip mit zwei Tauchgängen im Dalarö-Unterwasserpark kostet bei Captain Baltic umgerechnet 115 Euro, hinzu kommen 90 Euro fürs Equipment.
vrakdykarpensionatet.se
Ähnliche Preise ruft Dykcharter auf.
dykcharter.se
(Wintertauchen auf Anfrage) - Skifahren: Das Tagesticket am Hammarbybacken kostet für Erwachsene 24,50 Euro, Kinder bis 6 Jahre zahlen 9,50 Euro, Jugendliche bis 17 Jahre 19,50 Euro. skistar.com
Anfahrt per Tram, Metro oder Fähre. - Angeln: Ein vierstündiger Angeltrip ab Vaxholm mit Catch & Relax kostet winters wie sommers umgerechnet etwa 520 Euro für vier Personen. www.catchrelax.se
Skifahren in der City
Unabhängiger von den Wetterlaunen ist man am Hammarbybacken. Tendieren die Temperaturen Richtung Gefrierpunkt, wirft man dort die (laut Betreiber von einem nachhaltigen Wasserkreislauf gespeisten) Schneekanonen an. Denn Hammarbybacken ist ein Skigebiet – und es liegt in der Stadt. Wie ein weißer Buckel sticht es aus der zugegeben eher flachen Silhouette Stockholms hervor, gut zu sehen etwa von den Anhöhen der Djugården-Insel.
Hammarbybacken im südlichen Stadtteil Björkhagen ist mittlerweile ein Wahrzeichen Stockholms. »Eigentlich war der Hügel eine Müllkippe«, sagt Olivia Walten vom Betreiber Skistar. Verklappt wurde hier, was von Großbauprojekten in der Nähe übrig blieb, etwa der Schutt, der beim Errichten des weltgrößten Kugelbaus anfiel, der benachbarten Avicii Arena. Heute ist der Schutthaufen, den schon Szenegrößen wie Ingemar Stenmark oder Lindsey Vonn hinab düsten, auf 93,5 Meter Höhe angewachsen. Zwischen 2016 und 2019 wurden sogar Weltcup-Rennen ausgetragen.
Von all dem ahnt man nichts während der Anfahrt mit der Straßenbahn. Hammarbybacken versteckt sich hinter einem Hochhaus. »Das ist ja total komisch, wo soll man hier denn Ski fahren«, sagt ein Kind in Wintersportkluft beim Aussteigen an der Haltestelle Sickla kaj. Hinter der nächsten Ecke taucht der urbane Skibuckel mit seinen kurzen Pisten dann auf.
Bis zur Spitze führt ein Ankerlift. Oben angekommen liegt einem Stockholm zu Füßen, kein Alpenpanorama in Sicht. Je nach Können dauert es ein bis zwei Minuten, und schon ist man wieder im »Tal«. Doch unterschätzen sollte man das urbane Mini-Skigebiet mit seinen drei Abfahrten von insgesamt nur 1350 Metern Länge nicht. Ohne gewisse Skills geht auch hier nichts – wie eine vierköpfige Reisegruppe aus Malta eindrücklich unter Beweis stellt, die sich Ausrüstung geliehen hat und ohne Kurs zum allersten Mal auf die Bretter stellt.
»Sauschwer«, keucht einer der Männer von der Mittelmeerinsel mit einem Dampfwölkchen vor dem Mund. Er hat Probleme, es allein auf den Zauberteppich zu schaffen. Kurz darauf steht er mit gekreuzten Ski doch auf dem Förderband, nur um nach einigen Metern das Gleichgewicht zu verlieren und: umzukippen. Weit besser machen es ein paar Höhenmeter weiter oben die Kinder einer Freestyle-Klasse: Einer nach dem anderen zwirbelt an einer Schanze durch die Luft – dahinter das vor dem Abendhimmel leuchtende Einkaufsviertel Sickla mit Baumarkt und Strandbad am Sicklasjön.
»Viele Leute kommen auch zum After-Work-Skifahren her«, sagt Olivia. In der Woche öffnet man erst um 15 Uhr. Bis 21 Uhr ziehen die Großstädter dann im Flutlicht und künstlichem Schneewirbel ihre Schwünge. Am Wochenende lauten die Öffnungszeiten »9 to 5«. Dann sind Touristen in der Mehrheit, die meistens einen Städtetrip mit alpinem Skifahren verbinden. Zum Teil wohnt man im nahen Hochhaushotel und teilt sich das Frühstücksbuffet mit Geschäftsreisenden.
Wie nah sich Outdoor-Aktivitäten und das Großstadtleben in Stockholm sind, zeigt auch der Heimweg ins Innenstadt-Hotel: Erst radelt ein Mann mit einem Snowboard im Rucksack Richtung City. Später verschwindet ein anderer, ebenfalls mit Board im Arm, neben Aktentaschenträgern und anderen Passanten in den Gängen der Metro. Als wäre nichts gewesen als ein ganz normaler Tag.
Die Recherche wurde unterstützt von Visit Sweden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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