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Mietenbewegung in Berlin: Von der Straße an die Haustür
Sich zu organisieren, kann Mut machen, mit »Community Organizing« werden Nachbarn dabei unterstützt
Wenn Tim Voss an den Spätsommer zurückdenkt, dann greift er zum Superlativ. »Für mich war der Kampf für unser Haus der stärkste Moment, den ich seit Langem erfahren habe«, sagte der Mieter aus der Weichselstraße 52. Seine Hausgemeinschaft und er haben es geschafft. Zum ersten Mal seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vor zwei Jahren wurde das Vorkaufsrecht für ihr Haus vom Bezirk Neukölln wieder angewandt. Statt an einen Investor verkauft zu werden, ging das Haus an das landeseigene Unternehmen Stadt und Land.
Demonstrationen organisieren, Genossenschaften kontaktieren und in kürzester Zeit zu Experten für Immobilienfinanzierungen werden: Von Ende Juli bis September sei die Hausgemeinschaft in einer Art Ausnahmezustand gewesen. Wobei, eine richtige Hausgemeinschaft sei aus dem anonymen Haus gerade erst durch die drohende Gefahr des Verkaufs geworden. »Während wir uns früher nicht einmal gegrüßt haben, helfen wir jetzt einem älteren Ehepaar beim Einkauf und andersherum werden auch schon einmal Socken gestrickt«, erzählt Voss.
Für Millionen Menschen war 2023 geprägt durch Kriege, Flucht und materielle Unsicherheit. Hetze gegen die vermeintlich Anderen grassiert. Die EU grenzt Flüchtlinge zunehmend aus. Derweil steigen Mieten und Löhne sinken. Doch 2023 gab es auch Bewegungen, die sich all dem widersetzen.
Russen wenden sich gegen den Krieg, Beschäftigte streiken gemeinsam für ihre Rechte, Mieterinnen kämpfen für bezahlbares Wohnen. In »nd.DieWoche« stellen wir einige Initiativen und Bewegungen vor, die auf Solidarität und Versöhnung setzen. Mehr auf www.nd-aktuell.de/die-woche
»Der stärkste Moment seit Langem«
Eine Erfahrung, die viele Hausgemeinschaften, die bis vor zwei Jahren für den Vorkauf ihres Hauses gekämpft haben, auch gemacht haben. Sich organisieren, miteinander für eine Sache kämpfen, das kann bereits im Kleinen, wenn es wie bei den Mietern in der Weichselstraße um ein Haus geht, eine starke Erfahrung sein. Das Gefühl, sowieso nichts ändern zu können, wird auf eine Probe gestellt. In der Psychologie wird von Erfahrungen der Selbstwirksamkeit gesprochen.
Und es motiviert zu mehr: Auch wenn es ein Erfolg ist, dass ein landeseigenes Unternehmen das Haus übernimmt, wollen sie nicht einfach von der Stadt und Land »geschluckt« werden, sagt Voss. Die Hausgemeinschaft kenne die jeweils individuellen Belange je Etage, wolle, dass der Efeu im Innenhof erhalten bleibe und wisse, dass der Stolperstein vor dem Haus eigentlich aktualisiert werden müsse. »Wir wollen mitreden«, sagt er.
Dieses Mitreden, das zur Wehr setzen, kostet aber auch Kraft. »Wir haben das nicht einmal mehr gefeiert, als die Widerspruchsfrist abgelaufen war, die einzelnen Hausbewohner waren bereits in alle Richtungen verstreut.« Arbeit und Familie: Der Alltag will eben auch gemeistert werden. »Ich habe da auch ein schlechtes Gewissen, wir wurden ja von anderen Hausgemeinschaften angeschrieben und um Hilfe gebeten. Und ich war, als wir selbst an diesem Punkt waren, so dankbar über jeden Tipp«, sagt Voss. Eigentlich, denkt er, bräuchte es eine Art feste Stelle für solche Fälle, wo jemand berät, wo Wissen nicht verloren geht und Hilfe nicht nur in den Grenzen des Ehrenamtes stattfindet.
Community Organizing als Job
Man kann sagen, Johannes Schorling und Tanja Rakočević versuchen genau so etwas zu erfüllen. Beide haben bezahlte 30-Stunden-Stellen. »Community Organizing« nennt sich das, was sie machen. »Wenn mich Freunde fragen, antworte ich: Ich helfe Mieter*innen dabei, sich zu organisieren und selbst zur Wehr zu setzen«, erklärt es Schorling.
Das Kiezprojekt ist eine Kooperation der AG Starthilfe und des Berliner Mietervereins. Seit Jahren unterstützt die AG Starthilfe Nachbarn, sich zu organisieren – ob am Kottbusser Tor oder der Otto-Suhr-Siedlung. Das Kiezprojekt ist dann entstanden, weil die Aktiven der AG Starthilfe an dem gleichen Punkt angelangt sind wie Tim Voss aus der Weichselstraße. Eigentlich müsste die Nachbarschaftsorganisierung größer aufgezogen werden, doch ehrenamtlich ist das allein nicht zu schaffen.
Für das Projekt haben sich die Kooperationspartner Gegenden ausgesucht, in denen es bereits vorhandene Mieterinitiativen gibt. Das ist Prenzlauer Berg, wo Mieter sich zusammengeschlossen haben, weil die Sozialbindungen ihrer Wohnungen auslaufen und sprunghafte Mieterhöhungen sowie Eigenbedarfskündigungen ihr Zuhause bedrohen.
Doch auch in Mariendorf gibt es ein Kiezprojekt. »In einer ehemaligen Deutsche-Wohnen-Siedlung, die von Vonovia übernommen wurde, ist das brennende Thema die enorm hohen Nachforderungen für Heiz- und Betriebskosten, teils in Höhe von über 6000 Euro«, sagt Tanja Rakočević vom Kiezprojekt. Zuvor protestierten die Mieter hier bereits gegen ausgefallene und nicht reparierte Heizungen.
Rakočević' Aufgabe ist es nicht, das stellvertretend für die Mieter zu übernehmen. Es geht darum, die Dinge zu erledigen, die sonst liegen bleiben, die Kommunikation zwischen Mieterverein und Nachbarschaftsinitiative zu übernehmen und »den Faden wieder aufzunehmen, wenn er auf den Boden fällt«, wie sie es nennt.
Ziel dabei ist es, sich als Community Organizer selbst überflüssig zu machen. Das klappe zwar nicht so einfach, sagt Rakočević. Es zeige sich aber bereits, wie Mieter*innen selbstständiger werden, Treffen moderieren sowie selbst mit Politik und Presse sprechen.
Zuletzt war immer öfter die Rede davon, Nachbarschaftsprojekte zu starten. Aktivisten eröffneten Stadtteilläden mit Angeboten für den Kiez. Das »Recht auf Stadt«-Forum, ein bundesweites Zusammenkommen von stadtpolitisch Aktiven, hatte beispielsweise das Community Organizing gleich im Titel stehen, als es dieses Jahr in Oberhausen stattfand. Das Verständnis davon, was Organizing erreichen soll, unterscheidet sich dabei zwischen einzelnen Gruppen stark. Es reicht von konkreten Mietkämpfen bis hin zu Gruppen mit einem großen theoretischen Überbau und dem Anspruch einer linksradikalen Politisierung. Im Falle des Kiezprojektes gibt es nun aber erstmals bezahlte Stellen für das Organizing.
Mietenbewegung auf Talfahrt
»So ein Buzzword wie Community Organizing versprüht natürlich einen Reiz, weil es darum geht, neue Leute zu erreichen, die sich vielleicht nicht als links verstehen«, sagt Johannes Schorling. Manche würden sich dann vielleicht sagen, sie machen das jetzt für nächsten zwei Monate. So funktioniere das aber nicht, sagt er. »Es geht darum, langfristig Vertrauen aufzubauen.«
Für Lisa Vollmer, die selbst in mietenpolitischen Initiativen aktiv ist und an der Bauhaus Universität Weimar zur Wohnungspolitik forscht, steht das Interesse am Community Organizing auch im Zusammenhang mit dem generellen Zustand der Bewegung. »Die Mietenbewegung befindet sich derzeit eher in einer Abschwungphase«, sagt sie. Von den großen Demonstrationen mit über 30 000 Teilnehmern ist sie heute weit entfernt.
Dass die Mietenbewegung sich in einer Abschwungphase befinde, liege einerseits an der Corona-Pandemie, andererseits auch an den Blockaden, denen ihre Strategien ausgesetzt sind. Ein bundesweiter Mietendeckel oder eine Reform des Vorkaufsrechts ist auf Bundesebene nicht in Sicht. Und seit dem Antritt der Koalition aus CDU und SPD in Berlin werde keine Chance mehr gesehen, dass Forderungen der Bewegung hier auch umgesetzt werden können, sagt Vollmer. »Selbst kleine erkämpfte Siege werden abgewickelt. Das wirkt demoralisierend.« Sei es der Vergesellschaftungsentscheid, bei dem es nicht vorangeht, oder dass soziale Vermietungsvorgaben bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen zurückgenommen werden. »In so einem Moment macht die Fokussierung auf die Organisierung der Nachbarschaften Sinn«, sagt Vollmer.
Gleichzeitig sagt sie aber auch: »Aktuell fehlt eine neue Strategie oder eine neue große Erzählung, so wie es mit Deutsche Wohnen & Co enteignen der Fall war.« Wie genau diese aussehen könnten, weiß auch sie nicht. Aber folgende Elemente seien zentral: Eine Forderung mit einer konkreten Umsetzungsperspektive, die materielle Verbesserungen für viele Menschen verspricht, kombiniert mit niedrigschwelligen Aktionsformen, in die jede und jeder jederzeit einsteigen kann.
Auch Johannes Schorling findet: »Die Mietenbewegung steckt in einer Krise.« Sie sei aber gerade auch dabei, aus dieser wieder herauszukommen. Eine große Informationskampagne von Heimstaden-Mietern, um Nachbarn vor überhöhten Mietforderungen zu warnen, der Aufbau eines bundesweiten Bündnisses gegen Vonovia und die Praxis fehlerhafter Betriebskostenabrechnungen – die Anknüpfungspunkte sind da. Und wenn am zweiten Juniwochenende das »Recht auf Stadt«-Forum in Berlin zu Gast ist, soll es auch wieder eine große Mietendemonstration geben.
»Wichtig bleibt, dass wir gewinnbare Kämpfe führen«, sagt Schorling. Im Fall der Kiezprojekte könnten das auch 100 Euro bei der Nebenkostenabrechnung oder ein reparierter Fahrstuhl sein. »Das sind Erfolge, weil sie das Leben konkret verbessern.«
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