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Neues Drama bewegt die Schachwelt
Ein Großmeister erfindet ein eigenes Turnier, um sich einen Platz beim Kandidatenturnier zu sichern. Der Weltverband macht keine gute Figur
Die Schachwelt ist wahrlich nicht arm an Dramen. Einige davon erreichten zuletzt sogar die Massenmedien, dem pandemiebedingten Boom des Denksports sei Dank. Das größte war wohl der Betrugsvorwurf, den Weltmeister Magnus Carlsen gegenüber dem US-Amerikaner Hans Niemann verbreitet hatte. Es folgten Late-Night-Witze bei großen US-Fernsehsendern rund um angeblich verwendetes Sex-Spielzeug, eine erfolglose Gegenklage sowie mittlerweile eine Verbandsstrafe gegen Carlsen, da es zwar keinen Zweifel daran gibt, dass Niemann geschummelt hat, nur eben nicht in dem Spiel gegen den norwegischen Superstar. In der Community ist das Thema mittlerweile abgeschlossen, doch längst bewegen sie neue Dramen, und der Weltverband Fide agiert dabei wie so oft ziemlich dilettantisch.
Die Hüter des Schachs hatten sich von den Tagen zwischen Weihnachten und Silvester nur positive Schlagzeilen erhofft. Schließlich veranstaltet die Fide in diesem Zeitraum mittlerweile schon traditionell die Welttitelkämpfe im Schnell- und Blitzschach. Die besten Männer und Frauen treten in bis zu 21 Runden gegeneinander an. Es wird schnell gezogen und nicht lange nachgedacht. Das gefällt vielen. Doch einige der Fanlieblinge fehlen. Aus mehreren Gründen, die alle irgendwie auf die Fide zurückzuführen sind.
Da wären zunächst Zeit und Ort: Nach Almaty 2022 wählte der Verband mit Samarkand in Usbekistan erneut einen Ort in Zentralasien, der vor allem für Menschen vom amerikanischen Kontinent nur schwer erreichbar ist. Der bekannteste Schach-Streamer Hikaru Nakamura, neben Carlsen wohl der beste Blitzschachspieler der Welt, entschied schnell, dass er nicht antreten werde, und zeigte seinen Zuschauern auch, warum: Je nachdem, von wo aus man in Amerika seine Reise startet, dauert es bis zu 44 Stunden nach Samarkand. Kostenpunkt knapp 4000 Euro. »Toller Job, Fide!«, bemerkte Nakamura sarkastisch.
»Das ist schrecklich. Es ist so schwer, dort hinzukommen, und unglaublich teuer«, sagte auch sein Landsmann Fabiano Caruana, Weltranglistenzweiter hinter Carlsen im klassischen Schach. »Ich musste vier Tage vorher anreisen, nur um wegen des Jetlags nicht am Brett einzuschlafen. Klar ist das toll für Russen, Inder und Spieler aus Zentralasien. Aber das beste Ort wäre irgendwo in Europa. Da kommen alle noch ganz gut hin. Ignorieren wir einfach, dass ein großer Teil der besten Spieler vom amerikanischen Kontinent kommt? Die werden aber fast ausgeschlossen.«
Dabei geht es auch um den Termin: Der Start der Schnellschach-WM erfolgte am 26. Dezember. Der Weltranglistensiebente Wesley So aus den USA nimmt seit Jahren nicht teil, denn »Wesley ist ein tief religiöser Mensch«, erklärte Nakamura. »Doch die Fide geht davon aus, dass wir keine Familien haben und nur an Schach denken.« Die christlich-orthodoxen Russen hätten dagegen kein Problem, denn sie feiern später Weihnachten. Fide-Chef Arkadi Dworkowitsch ist übrigens Russe. Dass derzeit so viele Turniere in Zentralasien ausgetragen werden, hat auch damit zu tun, dass westliche Staaten die unter neutraler Flagge startenden Russen wegen des Ukraine-Krieges gar nicht einreisen lassen wollen.
So fehlen den Weltmeisterschaften nun also einige Stars aus den USA. Das größte Drama aber handelt nicht von einem Amerikaner, sondern von einem Franzosen: Alireza Firouzja gehört neben Carlsen und Nakamura zu den besten drei Blitzspielern, ist aber auch nicht in Samarkand dabei. Sein Verzicht hat allerdings mit der klassischen WM zu tun. Der prestigeträchtigste Titel soll im Herbst 2024 neu vergeben werden, und der Gegner des chinesichen Titelverteidigers Ding Liren wird im April beim Kandidatenturnier in Toronto ermittelt. Die acht Plätze sind fast alle schon besetzt. Den letzten bekommt der Spieler, der am 1. Januar in der Weltrangliste am besten platziert ist.
Bis vor wenigen Tagen war das Wesley So; Firouzja und der US-Amerikaner Leinier Dominguez lagen knapp zurück. Doch es stand kein großes Turnier mehr an, bei dem man viele Punkte sammeln konnte. Also reiste Dominguez nach Barcelona, um in einem kleinen Schachclub bei einem Vorweihnachtsturnier anzutreten. Gegen schwächere Gegner gab es zwar wenig zu holen, doch hätte er alle Partien gewonnen, wäre er an So vorbeigezogen. Nach zwei Remis war der Traum dahin. Dominguez drohte nun sogar derart viele Punkte zu verlieren, dass er aus den Top 10 der Weltrangliste fallen würde, also brach er das Turnier lieber ab. Warum? Nur die besten zehn der Welt werden zu den lukrativen Turnieren nächstes Jahr eingeladen. Das wollte der gebürtige Kubaner nicht aufs Spiel setzen, auch wenn ihn Fans dafür in den sozialen Medien kritisierten.
Blieb nur noch Firouzja. Der wollte komplett auf Sicherheit setzen und erfand kurzerhand sein eigenes Turnier, lud dazu drei schwache Gegner ein und nannte das Ganze »Alireza Firouzjas Rennen zum Kandidatenturnier«. Danach setzte er sich auch in Rouen bei einem weiteren Kleinturnier ans Brett. Der 20-Jährige gewann elf von zwölf Partien und zog so tatsächlich noch an Wesley So vorbei, der lieber daheim Weihnachten mit der Familie feierte.
Die Schachfans sind außer sich, sprechen von einer Manipulation des Systems. Dabei tat Firouzja nichts Illegales. Die Fide teilte zwar mit, dass man das Recht habe, Punkte bei zweifelhaften Turnieren zu verweigern, doch der Nachweis dürfte schwerfallen. Eine Regeländerung, dass Wettbewerbe und Teilnehmerfelder künftig 30 Tage im Voraus anzukündigen sind, kam zu spät.
Dabei war diese Entwicklung absehbar. Auch Ding Liren hatte sich für das Kandidatenturnier 2023 – und damit letztlich auch für den Gewinn seines WM-Titels – nur qualifiziert, nachdem er in seiner Heimat 28 Spiele in nur einem Monat gegen befreundete chinesische Großmeister bestritten hatte. »Die Fide hat sich daran letztes Jahr nicht gestört. Nun genießt die Konsequenzen! Das geschieht euch recht«, twitterte Jan Nepomnjaschtschi nun. Der Russe war Ding im WM-Duell im Mai 2023 unterlegen.
Die Schnellschach-WM in Samarkand hat übrigens Magnus Carlsen gewonnen. Es war bereits sein insgesamt 16. Titel in einer der vier gängigen Schachvarianten. Im Frauenturnier besiegte die Russin Anastasia Bodnaruk in einem spannenden Playoff-Finale die Inderin Koneru Humpy. An diesem Samstag werden noch die Titel in der Blitzvariante vergeben. Das alles wäre in all der Aufregung um Firouzja fast untergegangen.
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