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Zapatismus: »Die Kraft liegt in der moralischen Stärke«
Dolores Saravia über den Zapatismus als Prototyp für soziale Bewegungen
30 Jahre zapatistischer Aufstand, 30 Jahre »Es reicht!« – was bleibt vom Aufschrei gegen das System, der am 1. Januar 1994 seinen Ausgang nahm?
Die zapatistische Bewegung war Keimzelle für verschiedene, sehr wichtige historische Prozesse in Mexiko. Zum einen repräsentiert sie soziale Bewegungen eines neuen Typus: Solche, die nicht nur darauf abzielen, die herrschenden Bedingungen ändern zu wollen, sondern versuchen, alternative Machtstrukturen aufzubauen. Zudem war es absolut notwendig, dass eine breite Anerkennung der untragbaren Situation der indigenen Völker in die Gesellschaft getragen wurde. Viel von dem, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten erreicht wurde, geht auf die zapatistische Bewegung zurück. Sie fungierte als Vehikel für unzählige andere soziale Bewegungen – Bürgerrechtler, Bauern, Indigene, Arbeiter.
Dolores Saravia, 66, war Mitte der 90er bei den Mediationsgesprächen zwischen der mexikanischen Regierung und der zapatistischen Befreiungsbewegung EZLN in Mexiko tätig. 30 Jahre nach dem Beginn des Aufstands der EZLN zieht die Menschenrechtsaktivistin Bilanz.
Sie sehen den zapatistischen Widerstand demnach als Wendepunkt in der jüngeren Geschichte Mexikos an.
Ohne Frage. Auch wenn dessen politische Schlagkraft nicht mehr dieselbe ist. Aber der Ansatz, dem die Zapatisten damals gefolgt sind, ist gewachsen und hat sich weiterentwickelt. Die feministische Bewegung in Mexiko etwa hat sich die alternative Denkweise der Zapatisten angeeignet. Es geht nun nicht mehr bloß darum, Veränderungen des rechtlichen Rahmens im Staat herbeizuführen, sondern auch darum, mächtige selbstverwaltete Netzwerke in verschiedenen Bereichen aufzubauen. Ein Beispiel ist die selbstverwaltete Gemeinde Cherán im Bundesstaat Michoacán. Dort hat die Regierung kein Mitspracherecht.
Die Revolte der Zapatisten 1994 ging mit dem schleichenden Niedergang der Staatspartei PRI einher, welche sich zur Jahrtausendwende manifestierte. Die PRI kontrollierte nach der Mexikanischen Revolution über 70 Jahre das Land in einer Quasi-Diktatur. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Der Niedergang der Einheitspartei PRI war von vielen Faktoren geprägt. Da waren zum einen interne Machtkämpfe, zudem der Cardenismus (politische Bewegung, die auf den Sozialisten Lázaro Cárdenas zurückgeht, Anm. d. Red.), der zunehmend stärker wurde; es gab damals auch viel Korrespondenz von Intellektuellen aus aller Welt mit Subcomandante Marcos (Sprecher/Repräsentant der zapatistischen Bewegung, Anm. d. Red.) All das trug dazu bei, dass die absolute Kontrolle des Staates geschwächt wurde.
Im selben Jahr, als die Zapatisten zu den Waffen griffen, starb auch Luis Donaldo Colosio bei einem Attentat. Ein Politiker aus der PRI, der dennoch mit seinen Reformplänen dem System hätte gefährlich werden können. Die EZLN stützte früh die These, dass Colosios mutmaßliche Mörder Widersacher aus derselben Partei waren. Doch warum reagierte der Staat eigentlich nicht mit mehr Gewalt gegen den Aufstand der Zapatisten? So, wie man die Repression von damals kannte, überrascht es nahezu, dass es nicht mehr Massaker und Verschwundene gab.
Der Staat wusste bereits viele Jahre vorher von der Existenz einer zapatistischen Guerilla. Sie haben das Thema kleingehalten. Priorität war damals das Nafta-Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada, das am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Man wollte als wirtschaftlich und politisch modernes Land daherkommen. Als der Aufstand losging, gingen sehr viele Menschen auf die Straße – und all das passierte schnell. Doch sie marschierten nicht in Solidarität mit der EZLN. Die Menschen gingen in Massen auf die Straße mit Transparenten, auf denen »Stoppt den Krieg!« stand. Die Regierung musste also eine friedliche Lösung finden. Natürlich war es auch ein zutiefst asymmetrischer Konflikt. Wir bei der Conai (Nationale Vermittlungskommission) wussten damals, dass das Militär den Aufstand in wenigen Tagen hätte beenden können. Aber die sozialen und politischen Kosten wären enorm hoch gewesen. Der Druck war also groß, sich für einen Dialogprozess zu entscheiden. Gesprächspartner wurden sehr schnell gefunden. Wenn der Waffenstillstand mehr oder weniger schnell eine friedliche Lösung zu versprechen scheint, dann ist er für alle die beste Option.
Das fragen sich in Mexiko nach wie vor viele Menschen: Wussten die Zapatisten von Anfang an, dass sie keine Chance gegen das Militär haben werden, oder glaubten sie wirklich an ihren Sieg? Oder geht es darum vielleicht überhaupt nicht?
Ich denke, die Kraft der Bewegung liegt nicht im Physischen. Sie liegt in der moralischen Stärke. Das ist eine sehr wichtige, ebenso relevante Quelle der Macht. Ich kann natürlich nicht für die Zapatisten sprechen. Es kann sein, dass jemand, der in einer sehr abgeschiedenen Gemeinde lebt, eventuell keine Vorstellung davon hat, sich nicht über die Dimension eines nationalen Militärs im Klaren ist. Ich denke jedoch, sie haben zumindest darauf hingearbeitet, diesen Eindruck zu erwecken. Und: Sie haben Voraussetzungen für einen Wandel geschaffen. Die Tatsache, dass die militärische Strategie des EZLN sehr spezifisch und begrenzt war, ihre mediale Strategie hingegen sehr breit gestreut und sehr offen war, zeigt uns vor allem eins: Dass es ihnen weniger darum ging, mit militärischen Mitteln zu gewinnen – sondern durch ihre politische und moralische Stärke, ihre Fähigkeit, entsprechend zu kommunizieren. Das war meiner Meinung nach beim zapatistischen Aufstand das Entscheidende.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Sie waren für die Conai, die Nationale Vermittlungskommission tätig. Woran erinnern Sie sich am stärksten zurück?
Mehr als der Auftritt der Zapatisten oder der Regierung beeindruckte mich die Mediation selbst. Ich war damals, Mitte der 90er, Ausbildungskoordinatorin für ein Zentrum für kommunale Dienstleistungen. Ich arbeitete mit kleinen Gemeinden, für eine zivilgesellschaftliche Organisation – nie für die Regierung. Die Mediationsarbeit hat mich innerlich sehr bewegt. Es durch Dialog zu schaffen, Neues aufzubauen, nach gewaltfreien Lösungen zu suchen und die Konfrontationen zu verringern.
Gab es Ihnen das Gefühl, dass Wandel wirklich möglich ist?
Seit den Dialogen von San Andrés 1995 bin ich in die Vermittlungsarbeit gegangen. Ich sehe das als meine Berufung, mein Lebenssinn an. Damals haben wir große Fortschritte erreicht, es wurden grundlegende Vereinbarungen unterzeichnet. Die wurden zwar später nicht eingehalten, aber während meiner gesamten Laufbahn habe ich bemerkt, dass dies ein wichtiger Beitrag war. Kein einzelner Akt ist je die Lösung an sich – aber auf Wege zu setzen, um Frieden zu schaffen, das ist ein alternativer Weg. Es verändert die Dinge. Es ist radikal. Ich komme von klein auf aus der Ecke einer sozialen Linken. Ich war und bin motiviert von der Überzeugung, dass es möglich und notwendig ist, die gegenwärtigen Bedingungen zu ändern.
Wenn wir von der aktuellen Regierung sprechen, dem selbsternannten Linken Andrés Manuel López Obrador: Wie ist sein Verhältnis zu der zapatistischen Bewegung? Seine Mega-Infrastrukturprojekte lehnen die Zapatisten zumindest vehement ab.
Es handelt sich dabei eben um zwei grundsätzlich verschiedene Projekte. Die EZLN übt Systemkritik. Ihre Erklärungen sehen vor, dass niemand von ihnen je ein politisches Amt innehaben soll. Präsident López Obrador konzentriert einen Großteil seiner Kritik auf den Neoliberalismus, die Auswüchse des Kapitals – aber nicht unbedingt auf das kapitalistische System als solches. Die Zapatisten hingegen wollen Bedingungen schaffen, die etwa indigenen Völkern Autonomie ermöglichen. Die Entwicklung dieser Autonomie, das wäre ein Punkt der Annäherung, ein gemeinsamer Raum für den Präsidenten und die zapatistische Bewegung gewesen. Doch ich weiß nicht, ob López Obrador die Agenda des Zapatismus in seiner Tiefe wirklich verstanden hat.
Subcomandante Marcos, mythische Figur, Sprecher und vermummter Repräsentant des Zapatismus, verkörpert die Bewegung bis heute wie kein anderer. Braucht jede erfolgreiche linke Bewegung so einen unnahbar wirkenden Vertreter?
Damals sagte ein Journalist zu mir: Die EZLN ist eigentlich eine Mischung ganz verschiedener Strömungen. Indigene Mayas, Bauernorganisationen, Befreiungstheologen, bewaffnete Guerilla – diese große Melange ergibt am Ende das Profil des Zapatismus. Und das hat ihn auch all die Jahre überleben lassen. Trotz all der Widrigkeiten. Sie bündeln eine enorme spirituelle Kraft. Marcos hat aus meiner Sicht vor allem dazu beigetragen, kulturell und politisch zu übersetzen. All dies, was die Gemeinschaften dieser breiten gesellschaftlichen Mischung vorschlugen. Sie brauchten jemanden, der ihnen dabei helfen konnte, diese Gespräche mit dem Rest der Gesellschaft zu führen und zu vermitteln. Und ich denke, er hat das auf sehr erfolgreiche Art und Weise getan. Denn Marcos hat diese politische Gelassenheit, relevante Themen anzusprechen. Und gleichzeitig hat er auch eine gewisse … Komik (lacht).
Mit Pferd und Pfeife. Der mexikanische Che Guevara.
So waren die ganzen Inhalte für den Rest der Gesellschaft viel leichter vermittelbar. Auch als er später von der Regierung »demaskiert« wurde, hat ihm das nicht geschadet.
Verständlich. Das Image des belesenen linken Intellektuellen, des gebildeten Akademikers spielte ihm eher noch in die Hände.
Seine Führungsrolle war stark ausgeprägt. Er war zwar nicht der einzige, aber er stand meist im Zentrum des Prozesses.
2023 war ein sehr schwieriges Jahr für den Zapatismus, für den ganzen Bundesstaat Chiapas. Kriminelle Gruppen breiten sich immer weiter aus. Die zapatistische Organisationsstruktur ist gefährdet, man sprach Mitte vergangenen Jahres bereits davon, Chiapas sei »am Rande des Bürgerkriegs«.
Zunächst müssen wir verstehen, was die Organisierte Kriminalität heutzutage ausmacht. Es handelt sich um kriminelle Strukturen, an denen politische Akteure, Institutionen, soziale Organisationen, Staatsanwaltschaften usw. beteiligt sind. Primär geht es um wirtschaftliche Interessen. Damit diese Art von Wirtschaft funktioniert, braucht es territoriale Kontrolle. In einigen Regionen konnten sich diese kriminellen Gruppen bereits positionieren. In anderen wird um die Vorherrschaft gekämpft. Die Situation ist schwierig. Aber die indigenen Gemeinschaften haben eine historische Erinnerung an ihre Fähigkeit, Widerstand zu leisten. Ich vertraue darauf, dass sie am Ende in der Lage sein werden, diese Eskalation der Gewalt umzukehren.
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