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Türkei: Horrende Mietsteigerungen
In den vergangenen vier Jahren sind die Preise in Istanbul um das Siebenfache geklettert
Die Nachricht vom Dezember letzten Jahres sorgte für Aufsehen: Die Chefin der türkischen Zentralbank Hafize Gaye Erkan könne sich keine Wohnung in Istanbul leisten. Sie sei darum wieder zu ihrer Familie gezogen, sagte sie. Dabei verdient die Zentralbankchefin monatlich 161 000 Lira (umgerechnet etwa 4940 Euro). Auch wenn der Fall also keineswegs repräsentativ ist, verweist er doch auf ein Problem, das vorrangig die arme Bevölkerung betrifft: unbezahlbare Mieten in den großen Städten.
Allein in Istanbul sind die Mietpreise innerhalb der letzten vier Jahre um rund 713 Prozent angestiegen, wie Buğra Gökçe, Mitarbeiter der Stadtverwaltung, mitteilt. Damit liegen sie dort weit über dem landesweiten durchschnittlichen Anstieg von 583 Prozent. Auch die Provinz Antalya (1109 Prozent) und die Hauptstadt Ankara (833 Prozent) lagen deutlich über dem Mittelwert.
Inzwischen betragen die Durchschnittsmieten in den Großstädten das 1,5-Fache des gesetzlichen Mindestlohns. Der wurde zu Beginn des Jahres 2024 auf 17 002 Lira (umgerechnet etwa 520 Euro) angehoben und wird von rund der Hälfte der Bevölkerung bezogen.
Dadurch ist die Lage für viele Menschen in den Metropolregionen existenzbedrohend geworden. »Wenn die Türkei in den kommenden Jahren keine sehr ernsthaften revolutionären Schritte zur Lösung der Krise unternimmt, wird sie sich verschärfen, und wir werden mit der schlimmsten Wohnungskrise in der Geschichte der Republik konfrontiert sein«, warnte Gökçe auf X, vormals Twitter, bereits im Mai 2023. Vor allem junge Berufseinsteigende könnten sich kaum noch eine Wohnung leisten.
Eine Ursache für die dramatische Lage ist die seit Jahren hohe Inflation und damit verbundene zunehmende Lebenshaltungskosten. Denn Vermieter versuchen, die steigenden Kosten durch teurere Mieteinnahmen abzudecken. Im Jahr 2022 lag die Inflationsrate zeitweise bei über 80 Prozent. Noch im November 2023 betrug sie mehr als 60 Prozent.
Zwar sind die Wohnungseigentümer in der Regel an Verträge mit Staffelmieten gebunden: Bei Vertragsabschluss wird festgelegt, dass die Miete einmal jährlich leicht angehoben wird. Und solange ausreichend freie Wohnungen in zentralen Stadtvierteln zur Verfügung standen, wurden die Mieter*innen in den Verhandlungen begünstigt.
Doch die Situation am Wohnungsmarkt hat sich zum Nachteil der Mieter*innen gewandelt. Und oft mangelt es an der praktischen Umsetzung der Regelungen, auch bedingt durch den ausgehöhlten Rechtsstaat. Insbesondere für Menschen mit niedrigen oder mittleren Einkommen gibt es dadurch kaum noch bezahlbaren Wohnraum.
Um diese Entwicklung einzudämmen, hat die AKP-Regierung zuletzt eine Maßnahme verlängert, wonach Mieterhöhungen bis Juli 2024 maximal 25 Prozent betragen dürfen.
Allerdings versuchen die Immobilienbesitzer, diese Vorgabe zu umgehen. So wird immer wieder Mieter*innen der Vertrag unter dem Vorwand des Eigenbedarfs gekündigt, wenn diese sich nicht auf horrende Preiserhöhungen einlassen wollen. Die Wohnungen werden dann für ein Vielfaches neu vermietet.
Dem geht häufig eine Drangsalierung mit unzulässigen Mitteln bis zu roher Gewalt voraus. Allein 2023 wurden bei Konflikten um die Miete elf Menschen getötet, 46 verletzt und mehrere Hundert festgenommen, wie die Online-Zeitung T24 berichtete.
Ein weiteres Problem ist die akute Erdbebengefahr. Viele Gebäude in Istanbul sind Jahrzehnte alt und aus porösem Material gebaut. Einem Erdbeben der Stärke 7,4, das Seismolog*innen mit Blick auf die nächsten Jahre für wahrscheinlich halten, würden viele nicht standhalten. Da aber die Metropole das Wirtschaftszentrum der Türkei ist, wohin viele Menschen ziehen müssen, um Arbeit zu finden, ist die Situation meist alternativlos.
Auch darum entwickelt sich die Wohnungskrise zu einem Politikum. Zwar wird das Thema Mieten in Programmen der linken Parteien wie der Hedep oder der Türkischen Arbeiterpartei bisher nicht erwähnt. Dennoch dürfte es bei den Kommunalwahlen Ende März eine wichtige Rolle spielen. Vermehrt gründen sich lokale Initiativen wie die Kadıköy Geçinemiyoruz Platformu, die sich für die Belange von Mieter*innen in den Stadtvierteln einsetzen. Zudem kommt es immer wieder zu Protesten von Studierenden, die mehr bezahlbare Wohnheimplätze fordern.
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