Indien: Alle Räder standen still

Ein Streik in Indien legte zwei Tage lang große Teile des Lieferverkehrs lahm

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.
Lkw-Fahrer in Indien streikten zwei Tage lang gegen die Strafverschärfung bei Verkehrsunfällen.
Lkw-Fahrer in Indien streikten zwei Tage lang gegen die Strafverschärfung bei Verkehrsunfällen.

Nur zwei Tage dauerte der Ausstand, der am Neujahrstag begonnen hatte und sich gegen eine Strafverschärfung im Straßenverkehr wandte. Aber er hatte weitreichende Folgen: Trucker ließen zuhauf ihre Fahrzeuge in den Depots stehen oder fuhren, unterwegs auf einer Tour, zunächst nicht mehr zu ihrem Ziel weiter. Das hat die Versorgung mit diversen Produkten regional beinahe zusammenbrechen lassen. Mancherorts könnte es bis zum Wochenende da dauern, bis sich alle Abläufe wieder normalisiert haben.

Gravierend waren die Auswirkungen insbesondere, weil ein Großteil der etwa 100 000 Laster, die tagtäglich Benzin, Diesel und Gas zu den Tankstellen fahren, stillstand. In etlichen betroffenen Gegenden bildeten sich lange Schlangen an den Zapfsäulen. Auf behördliche Anordnung wurden teils nur zehn Liter Treibstoff pro Kunde abgegeben – sofern die Pumpen überhaupt noch etwas hergaben. Allein 1000 solcher Fahrzeuge saßen an einem Standort in Nashik (Bundesstaat Maharashtra) fest.

Teller und Rand – der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Die wenigen Tanklaster, die zwischenzeitlich noch fuhren, wurden oft von Spezialeinheiten der Polizei begleitet, so wurde unter anderem aus dem nordindischen Himachal Pradesh berichtet. Dort starteten 35 Fahrzeuge unter solchem Schutz von einem Depot der Mineralölgesellschaft Hindustan Petroleum in die Regionalhauptstadt Shimla und andere Distrikte.

Vom Warnstreik betroffen waren in erster Linie die Regionen im Norden, Westen und im Zentrum des Landes – von Jammu und Kaschmir über Punjab, die Bundeshauptstadt Delhi bis ins ärmliche Bihar und das bevölkerungsreichste Uttar Pradesh, vom Wüstenstaat Rajasthan bis zur Wirtschaftsmetropole Mumbai an der Westküste. Im zentralindischen Madhya Pradesh mussten mancherorts sogar Schulen schließen. In Jammu und Kaschmir etwa blieben am Dienstag 90 Prozent aller Tankstellen ohne einen Tropfen.

Neben Treibstoff ließen auch zahlreiche andere Lieferungen auf sich warten. Beinahe leer gefegt waren nicht nur in Delhi Marktstände, wo sich sonst Obst und Gemüse türmt. Wenn es noch etwas gab, dann zu deutlich höheren Preisen – allein aus dem Punjab wurden Teuerungen zwischen 10 und 20 Prozent vermeldet.

An etlichen Orten kam es durch die Aktivisten zu Straßenblockaden. Die »Hindustan Times« berichtete etwa von einer Sperrung des Express-Highways zwischen Agra und der Regionalhauptstadt Lucknow, die von Steinwürfen begleitet wurde. Sicherheitskräfte beendeten die Blockade unter Einsatz von Schlagstöcken. Auch in anderen Gegenden gerieten Trucker und Staatsmacht gewaltsam aneinander: In Rajasthan setzte ein Mob ein Polizeifahrzeug in Brand. In Maharashtra, wo insgesamt 40 Aktivisten festgenommen wurden, hatte es ebenfalls Übergriffe der Protestierenden auf Polizisten gegeben. In manchen Regionen schlossen sich Bus- und Taxifahrer den Streiks der Trucker an.

Der Protest richtet sich gegen eine Reform des im Kern noch aus der britischen Kolonialzeit stammenden Strafrechts, das in einigen Punkten empfindlich verschärft werden soll. So drohen bei schweren Unfällen und Fahrerflucht den Verurteilten künftig bis zu zehn Jahre Haft statt bisher maximal zwei – oder eine bei einem Truckergehalt utopische Geldstrafe von 700 000 Rupien (gut 8200 Euro).

Gerade Lkw-Fahrer entfernen sich aber häufiger vom Unfallort, auch um sich zu schützen. In der Vergangenheit waren Trucker durch aufgebrachte Menschenmengen ermordet worden, bevor die Polizei eingetroffen war. Zudem kommt es immer wieder zu schweren Unfällen wegen betagter Fahrzeuge, übermüdeter (und manchmal unter Alkohol oder Aufputschmitteln stehender) Fahrer sowie nachts ohne Licht fahrender Lkw.

Am Dienstag traf sich eine Abordnung des Dachverbandes All India Motor Transport Congress (AIMTC) mit Ajay Bhalla, dem Staatssekretär von Innenminister Amit Shah. Im Anschluss an das Gespräch erklärte der AIMTC den Warnstreik vorerst für beendet. Wie beide Seiten öffentlich mitteilten, sei vereinbart worden, dass die ohnehin noch nicht rechtskräftige Reform ohne weitere Verhandlungen vorläufig nicht umgesetzt werden soll.

In Indien werden etwa 70 Prozent aller Güter auf der Straße transportiert. Allein der Warenverkehr zwischen den großen Städten wurde in einer im Dezember 2021 vorgestellten Studie auf 209 Milliarden Dollar beziffert. Für den gesamten Sektor mit jährlichen Wachstumsraten um die acht Prozentpunkte wurde bis 2025 ein Wertzuwachs auf 330 Milliarden US-Dollar prognostiziert.

Während die meisten Trucker am Mittwoch ihren Dienst wieder aufnahmen, setzten in mehreren Regionen insbesondere Bus- und Taxifahrer ihren Streik fort. Unter anderem in der zentralindischen Großstadt Bhopal, so der »Indian Express«, wären Pendler selbst mit langen Wartezeiten kaum von der Stelle gekommen.

Lokale Gewerkschaften fühlen sich teils nicht an die Vorgaben des AIMTC gebunden. Und Anfang Februar, steht im Raum, könnte sogar ein unbefristeter Streik drohen – angesichts der jüngsten Erfahrungswerte aus zwei Tagen für viele ein Horrorszenario.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -