• Politik
  • Neue Regierung in Frankreich

Macron ergreift Flucht nach vorn

Mit Regierungsumbildung will Frankreichs Präsident Rentenreform und Ausländergesetz vergessen machen

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Präsident Emmanuel Macron hat am Dienstagmittag Gabriel Attal zum neuen Premierminister ernannt. Die Zusammensetzung der umgebildeten Regierung soll in den nächsten Tagen bekanntgegeben werden.

Attal ist mit seinen 34 Jahren der jüngste Regierungschef in der Geschichte aller fünf französischen Republiken. Von den Sozialisten kommend gehörte er 2016 zu den ersten Politikern, die sich dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Macron anschlossen. Er war bereits mit 28 Parlamentsabgeodneter und mit 29 Staatssekretär. In Macrons aktueller zweiter Amtszeit war er erst Regierungssprecher und zuletzt Bildungsminister.

Am Montagabend hatte Macron den wohl von ihm veranlassten Rücktritt von Premierministerin Élisabeth Borne und ihrer Regierung angenommen. Mit dem Wechsel des Premiers und der Umbildung der Regierung will Macron ganz offensichtlich die Konflikte und die eingegangenen Kompromisse der ersten eineinhalb Jahre seiner zweiten Amtszeit vergessen machen und für die restlichen dreieinhalb Jahre seiner Amtszeit einen Neuanfang versuchen.

Weil die Regierung, anders als noch während Macrons erster Amtszeit 2017-2022, im Parlament nicht mehr über die absolute Mehrheit verfügt, konnte Borne die von einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit abgelehnte Rentenreform nur durch den wiederholten Einsatz von Paragraf 49.3, der das Votum mit der Vertrauensfrage verbindet, durchs Parlament drücken. Einmal schrammte die Regierung dabei sogar mit nur einer Handvoll Stimmen Vorsprung an einem von der rechten wie der linken Opposition unterstützten Misstrauensantrag vorbei.

Beim zweiten großen Konfliktthema, dem Ausländergesetz, das die Bedingungen für Asyl verschärfen, die Abschiebung abgelehnter Ausländer beschleunigen und gleichzeitig Personalnachschub für Wirtschaftszweige mit extremem Personaldefizit sichern sollte, ließ sich die Regierung auf Verhandlungen und Kompromisse mit der rechtsbürgerlichen Oppositionspartei der Republikaner (LR) ein. Diese nutzte die Chance, um ihr Image und ihre Zukunftschancen nach zuletzt blamablen Wahlniederlagen wieder etwas aufzubessern.

Élisabeth Borne, die 2017 von der Parti socialiste zu Macron gestoßen ist, war die zweite Frau an der Spitze einer Regierung der Fünften Republik. Die erste war 1991/92 unter dem linken Präsidenten François Mitterrand die Sozialistin Édith Cresson, die nur zehn Monate amtierte, bevor sie ausgewechselt werden musste.

Élisabeth Borne konnte sich mit 19 Monaten fast doppelt so lange halten und hat sich in dieser Zeit viel Respekt verschafft. Aber angesichts der Neigung von Präsident Emmanuel Macron, nicht nur die ihm per Verfassung zustehende Entscheidungshoheit in Fragen der Verteidigung und der Außenpolitik auszuüben, sondern darüber hinaus seine persönlichen Entscheidungen auch zu vielen Themen durchzusetzen, die eigentlich in die Zuständigkeit des Premiers und der Minister fallen, blieb für sie und ihre Minister oft nur die undankbare Rolle ausführender »Mitarbeiter«.

Bemerkenswert ist, dass Macron mit Gabriel Attal einen Politiker gewählt hat, der – wie er selbst 2017 – sehr jung ist und damit Hoffnungen für zukunftsweisende Veränderungen gerecht zu werden verspricht. Attal soll wohl aber auch mit Blick auf die für Juni bevorstehenden Europawahlen linke Wähler zurückgewinnen, die 2017 und 2022 für Macron gestimmt, aber sich spätestens nach der Rentenreform und dem jüngsten Ausländergesetz enttäuscht von ihm abgewandt haben.

Eine solche Wende ist dringend nötig, wenn die Europawahl im kommenden Juni nicht zu einem Desaster für das Regierungslager und einem Triumph für das rechtsextreme Rassemblement National werden sollen. Der Partei von Marine Le Pen sagen Umfragen schon doppelt so viele Stimmen voraus wie bei der letzten Europawahl.

Darum war es für Macron wichtig, diesen strategisch wichtigen Personalwechsel vor der Wahl zu vollziehen und nicht wie üblich danach. Dass er bei der Entscheidung über den neuen Premierminister rechte Anwärter wie den Innenminister Gérald Darmanin und den Verteidigungsminister Sébastien Lecornu übergangen hat, wollen einige Kommentatoren schon als Vorzeichen für eine Linkswende nach so vielen rechten Kursänderungen sehen. Es bleibt abzuwarten, ob sich da nicht eine neue Enttäuschung anbahnt.

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