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»Animalia«: Epidemie der Mischwesen
Der Arthouse-Film »Animalia« erzählt von mutierenden Hybridwesen und deren Verfolgung in einer nahen Zukunft
Als dem jugendlichen Émile (Paul Kircher) unter seinen blutigen und schmerzenden Fingernägeln kleine Krallen wachsen, verfällt er in Panik. Ihm wird klar, dass auch er anfängt, sich langsam zu verwandeln. Derartige Mutationen sind in der nahen Zukunft im Arthouse-Science-Fiction-Film »Animalia« von Regisseur und Drehbuchautor Thomas Cailley an der Tagesordnung. Das Phänomen breitet sich global immer schneller aus. Manchen Menschen wachsen Flügel, andere mutieren zu Reptilien oder auch zu Rieseninsekten oder werden eigenwillige Säugetier-Hybride. Von der um sich greifenden Epidemie ist auch Émiles Mutter betroffen, sie hat sich bereits in ein haariges Wesen zwischen Bär, Fuchs und Wolf verwandelt. Eingesperrt in ein Krankenhauszimmer starrt sie aus dem Fenster und reißt mit ihren Klauen immer wieder tiefe Spuren in die Wände. Sohn und Ehemann besuchen sie regelmäßig. Aber ist sie überhaupt noch ansprechbar? Ist sie noch die Person, die sie zuvor war? Als sie in ein neu eingerichtetes Zentrum für mutierte Wesen in den Süden Frankreichs verlegt werden soll, ziehen Sohn Émile und Vater François (Romain Duris) mit in die Gascogne und mieten sich in einem Ferienbungalow ein. Aber der Transport mit den mutierten Wesen verunglückt, Dutzende von ihnen, darunter auch Émiles Mutter, fliehen in die Freiheit und verstecken sich in den Wäldern.
»Animalia« erzählt von mutierenden Hybridwesen, wie das in der Science-Fiction-Literatur jüngst auch in den Büchern des französischen Erfolgsautors Alain Damasio oder hierzulande in Dietmar Daths Romanen zu finden ist. Diese Fantasiewesen geistern aber auch schon jahrzehntelang durch die Popkultur, wie etwa in der mehrfach verfilmten X-Men-Comic-Reihe. In »Animalia« werden aber keine halbgaren, pseudowissenschaftlichen Erklärungen à la Hollywood in Stellung gebracht, sondern das Phänomen in seinen sozialen Dimensionen inszeniert. Während Émile versucht, an der neuen Schule klarzukommen und sich eine wundervoll schräge Romanze mit der ihre ADHS-Diagnose vor sich hertragenden Mitschülerin Nina (Billie Blain) abzeichnet, arbeitet der Vater im Niedriglohnjob in einem Restaurant. Niemand in ihrem Umfeld weiß, dass Émiles Mutter eines jener angsteinflößenden Wesen ist, die seit dem Unfall die Gegend unsicher machen und von aufgebrachten Bürgern sowie dem Militär gejagt werden. Denn keiner in der Kleinstadt will die Monster haben, das neue Behandlungszentrum für Mutierte hinter riesigen Betonmauern wird regelmäßig mit Graffitis beschmiert und Bürgerwehren organisieren sich. Derweil ziehen François und sein Sohn Émile los und durchkämmen den für Zivilisten gesperrten Wald auf der Suche nach der verschwundenen Mutter.
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Wo hört ein mutiertes Wesen auf, Mensch zu sein und wo fängt die Existenz als Tier-Hybrid-Wesen an? Diese Frage stellt sich im Film immer wieder, die Übergänge sind fließend und umkämpftes Terrain. Der sich verändernde Émile verbringt bald mehr Zeit im Wald als mit seinem Vater, der mit der Polizistin Julia (Adèle Exarchopoulos) anbändelt. Trotz seines nicht gerade leichten Gehalts und Themas, ist »Animalia« ein ungemein rasant erzählter Film mit flotten und stellenweise sehr witzigen Dialogen, die das Schülerleben, das Verhältnis Émiles zu seinem Vater und die Romanzen von François und seinem Sohn in ihrer Alltäglichkeit schildern und das Fantastische einen Teil davon werden lassen, ohne dass es aufgesetzt oder konstruiert wirkt. Mit seinem Budget von gerade mal 15 Millionen Euro kostet der Film ein Zehntel dessen, was eine vergleichbare Hollywood-Produktion gekostet hätte. Aber »Animalia« kann trotz fehlender High-End-Tricktechnik mit den Blockbustern des Fantastik-Genres absolut mithalten. Die eigenwillige Mischung aus Science-Fiction, Body-Horror, Arthouse, Coming-of-Age-Geschichte, Pandemie-Thriller und Endzeit-Story hat einige fast poetische Momente. Etwa, wenn Vater und Sohn im Auto mit dem maximal laut aufgedrehten schnulzigen Lieblingssong der Mutter durch den nächtlichen Wald fahren, aus den offenen Fenstern ihren Namen schreien und Émile mit einer Taschenlampe in das Baumdickicht leuchtet.
»Animalia« erzählt von magisch wirkenden Grenzüberschreitungen, vom ängstlichen und vorsichtigen Sich-Herantasten an neue, unbekannte Existenzweisen, von neuartigen, für Menschen fantastisch wirkenden Fähigkeiten wie Fliegen, ganz anderem Hören und Riechen. Diese neue Freiheit der mit ihrem Schicksal hadernden und für ihre neue Existenz und jede noch so kleine Hoffnung kämpfenden Wesen, die für sich eine ganz neue Welt entdecken, kontrastiert brutal mit der ständigen Bedrohung durch Staat und Gesellschaft, mit der gewaltförmigen Obsession, alles Nicht-Normierte wegzusperren und auszumerzen. Wie schwer es ist, diese neue Form der Existenz anzunehmen und sich ihr zu stellen, müssen auch Émile und sein Vater schmerzlich durchleben. Das führt zu Enttäuschung, Streit und Verwerfungen, provoziert aber auch Solidarität, Mut und Liebe. Darum kämpfen Émile und François mit reichlich Hingabe.
»Animalia«, Frankreich 2023. Regie: Thomas Cailley. Mit: Romain Duris, Paul Kircher, Adèle Exarchopoulos. 130 Min. Kinostart: 11. Januar.
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