Trabert: »Die Menschen in Israel sind re-traumatisiert«

Nach dem Hamas-Überfall und dem Krieg in Gaza hat Gerhard Trabert in Israel eine gespaltene Gesellschaft gesehen

Gerhard Trabert, Gregor Gysi und Prof. Josef Haik im Sheba Medical Centre
Gerhard Trabert, Gregor Gysi und Prof. Josef Haik im Sheba Medical Centre

Sie haben in der vergangenen Woche gemeinsam mit dem Linke-Politiker Gregor Gysi Israel besucht. Was war der Anlass der Reise?

Ich habe dem Sheba Medical Centre in Tel Aviv ein sogenanntes Dermatom übergeben. Das ist ein medizinisches Gerät zur Durchführung von Eigenhauttransplantationen, die am dortigen Zentrum für plastische Chirurgie bei Verbrennungsopfern durchgeführt werden. Im Sheba Medical Centre werden Verletzte des schrecklichen Überfalls von Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 auf Israel behandelt, der über 1500 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, das Leben kostete. Zugleich werden aber auch zivile Opfer des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen betreut. Mein Partner Prof. Josef Haik und ich sind uns vollkommen einig, dass Ärztinnen und und Ärzte jeden Patienten behandeln, egal welchen individuellen Hintergrund dieser Mensch besitzt. Genau dies war ja auch meine Intention, mit der Bereitstellung eines Dermatoms eine Klinik zu unterstützen, die alle Opfer dieses Krieges behandelt, ob nun Israelis oder Palästinenser.

Interview

Gerhard Trabert, 1956 in Mainz geboren, ist promovierter Mediziner und Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie. Trabert gründete 1994 eine medizinische Versorgungseinrichtung für wohnungslose Menschen. Im November 2023 wählte ihn der Bundesparteitag der Linken auf Platz 4 der Kandidatenliste zur Europawahl 2024.

Sie hatten in Israel zahlreiche Gespräche, mit Politkern und Abgeordneten, auch mit Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen. Wie haben Sie die israelische Gesellschaft erlebt?

Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen in Israel mit dem Hamas-Massaker und der Verschleppung von Geiseln eine Art Re-Traumatisierung erlebt haben. Der Überfall hat existentielle Ängste der israelischen Gesellschaft zum wiederholten Male reaktiviert. Wir trafen uns mit Angehörigen von Geiseln der Hamas. Eine Mutter, die um das Leben ihres Sohnes bangt, eine Tochter, deren Mutter in Geiselhaft war und freigelassen wurde, aber deren Vater weiterhin von der Hamas drangsaliert wird. Und eine Tante die sich um das Überleben ihres Neffen sorgt. Die Angehörigen erwarten einen Waffenstillstand und ein intensiveres Bemühen und Handeln des israelischen Staates, um die Freilassung der Geiseln zu ermöglichen. Sie erwarten aber auch von ausländischen Regierungen und internationalen Hilfsorganisationen, wie z.B. dem Internationalen Roten Kreuz, mehr Unterstützung und konkrete Hilfe. Zwei Tage nach dem Treffen erfuhren wir, dass der Sohn, dessen Mutter wir sprachen, tot ist. Schrecklich.

Der Überfall der Hamas führte zu einer israelischen Militäroperation, die sehr viele zivile Opfer fordert und inzwischen weltweit als unangemessen verurteilt wird. Wie wird das in Israel wahrgenommen?

Die Wahrnehmung ist sehr unterschiedlich, wie wir von unseren Gesprächspartner*innen erfuhren. Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 am israelischen Volk ist ein Kriegsverbrechen. Die Bekämpfung der Hamas durch das israelische Militär, mit der Folge tausendfachen Todes von Zivilisten – auch, weil die Hamas als weiteres verbrecherisches Vorgehen die Zivilbevölkerung als Schutzschilde missbraucht – stellt ebenso ein Kriegsverbrechen dar. Auch wenn der Auslöser für all diese militärischen Verbrechen der Überfall der Hamas war, darf das Verhalten der israelischen Armee nicht in einem rechtsfreien Raum gesehen werden. Umgekehrt betreiben die Aktivisten der Hamas keinen Freiheitskampf, sondern sind einfach nur Mörderbanden. Darin waren wir uns in der Einschätzung mit unseren Gesprächspartner*innen einig. Aber natürlich: Wir haben uns nur mit Vertreter*innen der israelischen Gesellschaft getroffen, die progressive Ansichten vertreten und für eine gewaltfreie Lösung des Nahostkonflikts einstehen.

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Sie sind Arzt und waren weltweit in Kriegs- und Krisengebieten im Einsatz. Konnten Sie sich über die medizinische Versorgung im Gazastreifen informieren?

Wir haben authentische Informationen erhalten, dass jeden Tag mehr als 100 Kinder im Gazastreifen sterben, dass dort wahrscheinlich bis zu 50 000 schwangere Frauen ohne jegliche medizinische Versorgung sind. Es gibt gerade im Norden des Gazastreifens praktisch kein funktionierendes Krankenhaus mehr, es gibt keine Medikamente, keine Nahrungsmittel. Nicht zuletzt sind auch über 300 Ärzt*innen, Krankenschwestern und Pfleger getötet worden.

Lässt diese Situation die Menschen in Israel nach dem Hamas-Massaker kalt?

Nein. Wir haben in Israel Vertreter*innen der Organisation »Road to Recovery« und »Physicians for Human Rights Israel« getroffen. Das sind israelische zivile Hilfsorganisationen, die sich um die Gesundheitsversorgung der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland kümmern. »Road to Recovery« holte beispielsweise Patienten aus dem Gazastreifen nach Israel, damit sie dort medizinisch versorgt werden – was übrigens mit einem riesigen administrativen Aufwand verbunden war. Durch den Krieg können nun Dialysepatienten, Krebspatienten, erkrankte Kinder nicht mehr in Israel versorgt werden. Eine Vertreterin dieser Hilfsorganisation ist fassungslos über das Verhalten der israelischen Behörden und hat große Angst um das Leben ihrer Patient*innen. Sie kritisiert das Verhalten des israelischen Staates und ist traurig und demoralisiert über das ignorante und abweichende Verhalten vieler Israelis der Arbeit ihrer Hilfsorganisation und der Lage der palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen gegenüber. Die finanzielle Unterstützung ihrer Arbeit sei fast vollkommen eingestellt worden und sie erlebe immer wieder Anfeindungen. Wir als Verein »Armut und Gesundheit in Deutschland« werden diese Organisation finanziell unterstützen. Die Menschenrechte müssen für jede und jeden und überall auf dieser Erde gelten und realisiert werden, auch in Kriegsregionen.

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