- Kultur
- Papst Franziskus
Linke im Vatikan: Verliert Euer Herz nicht
Audienz im Vatikan: Ein linkes Netzwerk übergab dem Papst ein Positionspapier für Frieden und solidarische Transformation
Es war ein dunkler Wintermorgen in Rom, als sich am 10. Januar dieses Jahres eine kleine Gruppe über den Petersplatz zum Sitz des Papstes Franziskus bewegte. Fast alle von ihnen hatten sich gemeinsam seit fast einem Jahrzehnt für einen neuen Dialog zwischen Christinnen und Christen einerseits und Sozialistinnen und Sozialisten mit marxistischer Orientierung andererseits eingesetzt. Begonnen hatte es mit einer anderen Audienz zehn Jahre zuvor, als der Papst den für das Amt des griechischen Ministerpräsidenten kandidierenden Alexis Tsipras, den Vertreter der katholischen Basisbewegung Fokolarbewegung (mit über 150 000 offiziellen Mitgliedern weltweit in 182 Ländern) und Walter Baier, Vorsitzender des linken Europäischen Netzwerks Transform, empfing.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Ausgehend von diesem Treffen beim Papst 2014 bildete sich DIALOP. Dieses Netzwerk fördert und unterstützt den Dialog zwischen Menschen mit weltlichem und religiösem Hintergrund, insbesondere zwischen Sozialisten/Marxisten und Christen. In Zusammenarbeit mit Universitäten und anderen formellen oder informellen Bildungseinrichtungen zielt DIALOP darauf ab, die Bereiche einer Sozialethik zu entwickeln und umzusetzen und dabei die Grundsätze der Marx’schen Sozialkritik und der Soziallehre der Kirche anzuwenden. 2020/21 entstand aus diesem dialogischen Prozess von Seminaren, einer Sommeruniversität, Konferenzen, ein Positionspapier, verfasst von Professor Bennie Calebaut von der italienischen Sophia-Universität und dem Autor dieses Artikels. Es wurde in Cádiz diskutiert und verabschiedet.
Ausgehend von der Geschichte heftiger geistiger und politischer Kontroversen zwischen dem Katholizismus und dem Marxismus wurden die weltanschaulichen Grundlagen einer neuen Gemeinschaftlichkeit erkundet. Am 10. Januar wurde dieses Positionspapier – gemeinsam mit anderen Dokumenten – dem Papst übergeben. Es versucht die Frage zu beantworten, »warum waren diese beiden ›sozialen Kräfte‹ vor zweihundert Jahren nicht in der Lage, ihre Anstrengungen gegen das damals aufkommende Elend von Millionen von Menschen, das durch die industrielle Revolution verursacht wurde, zu vereinen und sich dem Triumph des wilden Kapitalismus jener Zeit entgegenzustellen?« Was können sie heute tun in neuer Gemeinsamkeit? Das Positionspapier endete mit den Worten: »Nur gemeinsam werden wir gerettet, indem wir uns einsetzen für eine Ökonomie des Lebens; für eine Gemeinschaft der Fürsorge; für eine Politik der solidarischen Transformation; für eine Welt, in der es Platz für viele Welten gibt; für die Würde jedes Einzelnen in einer reichen Welt der Gemeingüter und für ein Miteinander des Friedens.«
Der Papst leitete seine Rede während der fast vierzigminütigen Audienz am 10. Januar mit den Worten ein: »Ich bin erfreut, Euch, die Repräsentanten von DIALOP, zu begrüßen, die sich über viele Jahre durch den Dialog zwischen Sozialisten/Marxisten und Christen dem gemeinsamen Gut verpflichtet haben. Ein lateinamerikanischer Schriftsteller schrieb einmal, dass die Menschen zwei Augen haben, eines aus Fleisch und eines aus Glas. Mit ersterem sehen sie das, worauf sie gerade blicken; mit dem anderen sehen sie das, wovon sie träumen. Heute, in einer Welt, geteilt durch Krieg und Polarisierung, laufen wir Gefahr, die Fähigkeit zu träumen zu verlieren. Wir Argentinier sagen: ›no te arrugues‹, ›verliere nicht Dein Herz‹. Das ist auch meine Einladung an Euch: Verliert Euer Herz nicht, gebt nicht auf, hört nicht auf, von einer besseren Welt zu träumen. Denn es ist die Gabe der Vorstellungskraft, die Fähigkeit zu träumen, in der Intelligenz, Intuition, Erfahrung und historisches Gedächtnis zusammenkommen, um uns schöpferisch werden zu lassen, Chancen zu nutzen und Risiken einzugehen. Wie oft in den Jahren, die vergangen sind, haben große Träume von Freiheit und Gleichheit, Würde und Geschwisterlichkeit, Träume, die Gottes eigenen Traum reflektierten, Durchbrüche und Fortschritt hervorgebracht.«
Es ist kein Zufall, dass dieser Papst als erster »in der Nachfolge« Petrus’ den Namen Franziskus wählte, denn der Heilige Franziskus von Assisi (1181–1226) hatte sich in der Kirchengeschichte mehr als jeder andere für die Option für die Armen, die Besitzlosen, die Ausgegrenzten starkgemacht. Seine erste Reise als Papst führte ihn nach Lampedusa, um sein Entsetzen über das Massensterben im Mittelmeer, an den Küsten der EU, zu bekunden. In der katholischen Kirche rückte unter dem 2013 zum Papst gewählten Argentinier Jorge Mario Bergoglio die Verbindung von Einsatz für die Armen, für die Umwelt und den Frieden ins Zentrum der katholischen Lehre. Schärfer als alle Päpste vor ihm hat er die herrschende ökonomische Ordnung mit den Worten verurteilt: »Diese Wirtschaft tötet!« Gleichzeitig ist ein neuer Sozialismus im Entstehen, der die Fragen der sozialökologischen Transformation und einer neuen globalen Ordnung zum Schwerpunkt macht und dies in einem umfassenden Verständnis der Menschenrechte fundiert.
Begegnungen wie die in Rom am 10. Januar zeigen, dass völlig neue Bündnisse möglich sind und gebraucht werden, um in den Zeiten von Kriegen und ideologischer Konfrontation, Umweltzerstörung im globalen Maßstab und anhaltender weltweiter Armut ein hartes Nein zu diesen Entwicklungen zu formulieren und an konkreten solidarischen Alternativen zu arbeiten. In dunklen Zeiten wie den unseren werden solche ermutigenden Zeichen dringend gebraucht.
Michael Brie, Professor für Philosophie und langjähriger Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ist Mitglied der Leibniz-Sozietät und des wissenschaftlichen Beirats von Attac. Das genannte Positionspapier ist abrufbar unter: https://dialop.eu/wp-content/uploads/2022/10/DIALOP_PositionPaper_U_20221012_dt.pdf
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.