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Das Leben von Heinz Kerz: »Man nannte ihn den schwarzen Bomber«
Er wurde von den Nazis zwangssterilisiert und ins KZ gesperrt – sein Lebensweg als Erinnerungsarbeit im Fußball
Nieder-Olm ist eine Gemeinde mit fast 10 000 Einwohnern in der Nähe von Mainz. Im Alten Rathaus hat die ehemalige Stadtarchivarin Anuschka Weisener auf einem Tisch historische Fotos ausgebreitet. Auf einem Bild stehen sechs Jugendliche am Rand eines Schwimmbades und lächeln. Auf einem anderen blicken junge Fußballer zuversichtlich in die Kamera. Das erste Motiv stammt aus den frühen 30er Jahren, das zweite wohl aus den frühen 50ern. Auf beiden zu sehen: der schwarze Fußballer, Trainer und Schwimmlehrer Heinz Kerz. »Es ist bemerkenswert, dass Heinz Kerz nach dem Krieg wieder nach Nieder-Olm zurückgekehrt ist«, sagt Weisener. »Obwohl man ihn vernichten wollte. Er kam zurück und führte offenbar ein ausgefülltes Leben.«
Ein schwarzer Fußballer von den Nazis verfolgt? Darüber ist in der Geschichtsschreibung des Sports bislang wenig bekannt. Zum besseren Verständnis sollte man die Geschichte von Anfang an erzählen, bei der Rassismus mit Antisemitismus einhergeht.
Nach dem Ersten Weltkrieg besetzen die Siegermächte große Teile des Rheinlandes; unter ihnen sind französische Soldaten, die aus afrikanischen Kolonien stammen. Im Deutschen Reich empören sich Politiker gegen diese »schwarze Schmach«. Eine Satirezeitschrift zeigt einen Gorilla mit französischer Militärmütze, der eine weiße Frauenstatue trägt. In »Mein Kampf« schreibt Hitler, dass die Stationierung schwarzer Soldaten eine Strategie der »Juden« sei, um durch die »zwangsläufig eintretende Bastardisierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen«.
Viele der mehr als 500 Kinder, die von französischen Soldaten und deutschen Frauen gezeugt werden, erleben früh Rassismus. Sie werden als »Rheinland-Bastarde« geschmäht. Einer von ihnen: Heinz Kerz, geboren 1920. Doch im Fußball erspielt sich der Stürmer in Nieder-Olm einen guten Ruf. »Man nannte ihn den schwarzen Bomber. Viele Leute in der Gemeinde blickten mit Anerkennung auf Heinz Kerz«, erzählt Markwart Herzog, Direktor der Schwabenakademie im bayerischen Irsee. Der Philosoph, Sport- und Kulturhistoriker forscht seit vielen Jahren zu historischen Themen im Fußball und ist im Landesarchiv Speyer auf Akten zu Kerz gestoßen.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Kerz aus dem Fußballverein in Nieder-Olm ausgeschlossen. Mit 18 Jahren wird er in ein Krankenhaus nach Darmstadt gebracht und zwangssterilisiert. Mehr als 400 schwarze Menschen müssen nach einem »Führerbefehl« diesen Eingriff über sich ergehen lassen. Später wird Kerz ohne Anklage verhaftet und für zwei Jahre im KZ Dachau interniert, berichtet Herzog. Kerz muss Zwangsarbeit leisten und wird 1945 auf einen der »Todesmärsche« geschickt. 2000 Menschen afrikanischer Herkunft werden in den Konzentrationslagern ermordet, Kerz überlebt.
Nach dem Krieg baut sich Kerz in Nieder-Olm ein neues Leben auf, berichtet die ehemalige Stadtarchivarin Anuschka Weisener: »Er schaute augenscheinlich ohne Groll auf diejenigen, die ihn einst erniedrigt und vertrieben haben.« Viele Täter leben noch immer in Nieder-Olm, doch Kerz blickt nach vorn. Er engagiert sich als Trainer im Fußballverein und bringt Kindern das Schwimmen bei. Er sitzt für die SPD im Gemeinderat und freut sich jedes Jahr auf den Karneval. Ein Foto zeigt ihn, wie er mit einem ehemaligen SA-Mann schunkelt. Herzog schlussfolgert: »Er wollte offensichtlich wieder dazugehören zu der Gemeinde, zu der er so lange schon gehört hat.«
Im Ort tuschelt man über Kerz und seine kinderlose Ehe, doch öffentlich will er nicht über die Zwangssterilisation sprechen. Anuschka Weisener deutet auf ein weiteres Foto aus dem Jahr 1980. Darauf zu sehen: Heinz Kerz, inzwischen 60, wie er vom Bürgermeister in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet wird. Seit der KZ-Haft leidet er unter Herzproblemen, doch auf dem Bild wirkt er zufrieden und präsentiert stolz seine Ehrenurkunde. Nur ein halbes Jahr später stirbt er an einem Herzinfarkt.
In Deutschland wird zurzeit intensiv über den Einfluss von Rechtsextremen diskutiert, auch über Rassismus in der Gesellschaft. Dennoch fehlt vielfach das historische Wissen: Nur wenigen dürfte bekannt sein, dass schwarze Menschen schon lange im deutschsprachigen Raum leben, seit mehr als 400 Jahren. So lehrte der ghanaische Philosoph Anton Wilhelm Amo im 18. Jahrhundert an den Universitäten in Halle (Saale), Wittenberg und Jena. Während des Kolonialismus an der Schwelle zum 20. Jahrhundert lebten mehrere Hundert Afrikaner aus den »Schutzgebieten« im Deutschen Reich. In der Regel hatten sie keinen Anspruch auf volle Bürgerrechte; Sozialversicherung oder Arbeitslosengeld wurden ihnen verwehrt. Lange wurden Quellen über ihre Biografien nicht archiviert oder absichtlich zerstört. Und die Erinnerungsarbeit im Fußball wurde auch lange vernachlässigt.
Im Fall von Kerz vergehen nach seinem Tod mehr als 20 Jahre, bis sich die Nieder-Olmer wieder an ihren beliebten Fußballtrainer erinnern. Eine Sporthalle trägt inzwischen seinen Namen. Und immer wieder diskutieren Schüler im Geschichtsunterricht über ihn. Zum Holocaust-Gedenktag 2023 hält die Archivarin Weisener einen Vortrag über Kerz. Der Andrang ist so groß, dass sie die Veranstaltung in einen größeren Saal verlegen muss. Weisener ist selbst als Übungsleiterin im Sport tätig. Sie fände es toll, wenn Kerz auch in anderen Vereinen zum Vorbild werden würde.
Ronny Blaschkes Buch über Rassismus und Kolonialismus im Fußball: »Spielfeld der Herrenmenschen«, Verlag Die Werkstatt, 256 S., 22 €.
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