Israel und die Hamas: Die Strategie mit der Angst

Israels Militär soll die Hamas auslöschen – und ist damit überfordert

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Truppen der israelischen Armee führten Razzien im Raum Al-Amal durch… Scharfschützen eliminierten Hamas-Kämpfer in Chan Junis … Man kreist ein, zerstört, eliminiert, entdeckt Tunnel, entschärft Sprengfallen. Ab und zu fallen Bomben auf Hisbollah-Stellungen in Libanon. Die vom Militär seit Wochen herausgegeben und mit Super-Macht-Videos garnierten Frontmeldungen lassen wenig von der Grausamkeit des urbanen Krieges in und um den Gazastreifen erahnen.

Israels Militärführung ist bemüht, eigene Verluste gering zu halten. Bislang ging die Taktik weitgehend auf. Nach offiziellen Angaben sind seit Beginn der Bodenoffensive »nur« etwa 200 Soldaten getötet und mehr als 1000 verletzt worden. Die Zahl der getöteten Hamas-Terroristen gab man zuletzt mit etwa 9000 an. Das wäre gut ein Drittel der ausgebildeten und bewaffneten Hamas-Kämpfer, die Experten der Terrortruppe vor ihrem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 zugeschrieben hatten.

Schon diese Zahlen machen klar: Das von Premierminister Benjamin Netanjahu ausgerufene Kriegsziel, die Hamas zu vernichten, ist nicht erreicht. Dennoch schwächt die israelische Armee ihre Attacken seit Jahresbeginn nicht ab und ist vehement gegen einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand. Doch statt wie bisher feindliche Stellungen aufzuklären, um sie dann durch Distanzangriffe aus der Luft zu zerstören, bleiben Jagdbomber, Helikopter und Drohnen immer öfter am Boden. Spezialkräfte des Heeres und die Geheimdienste sollen »den Job« subtiler erledigen, Hamas-Stellungen ausschalten sowie Kommandozentralen und Nachschublager ausheben. Reguläre Truppen werden aus unmittelbaren Kämpfen herausgelöst, sie sollen stattdessen eine Pufferzone im Vorfeld der israelischen Grenzen sichern. Reservisten kehren in ihre zivilen Jobs zurück. Das entlastet die Wirtschaft und beruhigt die Gesellschaft.

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Diese taktische Umstellung in diesem von Anfang an asymmetrischen Kampf hat verschiedene Gründe. Alle bekannten gegnerischen Stellungen sind in Grund und Boden gebombt, dennoch soll das Hamas-Tunnelsystem noch zu 80 Prozent intakt sein. Es fehlt Israel an Nachschub: Bomben, Raketen, Granaten, Ersatzteile… Die USA als Hauptlieferant sind weder willens noch in der Lage, die israelischen Forderungen dauerhaft zu erfüllen – und zu finanzieren. Schon gar nicht, ohne dafür politische Zugeständnisse zu erhalten. Wesentlich für die Änderung der militärischen Taktik ist auch der wachsende internationale Protest gegen Israels Kriegsführung, die zu vielen Opfern in der palästinensischen Zivilbevölkerung fordert.

Manche Experten sehen einen Strategiewechsel, dabei ist nicht einmal klar, ob Israel überhaupt eine Strategie hat. Premier Benjamin Netanjahu, dessen politisches Schicksal eng mit einem militärischen Erfolg in Gaza verknüpft ist, gab den Befehl: Vernichtet die Hamas! Das liegt – egal, welchen Zeithorizont man wählt – jenseits aller militärischen Möglichkeiten. Generalstabschef Herzi Halevi, der als einstiger Militärgeheimdienstchef tiefe Einblicke in das Wesen der Hamas gewinnen konnte, warnte jüngst davor, dass Israels zerstritten agierende Regierung die Errungenschaften der mehr als drei Monate andauernden Gaza-Kämpfe aufs Spiel setze. Bei einem »privaten« Gesprächen mit Netanjahu, dem Verteidigungsminister Joav Gallant und anderen soll der Generalleutnant laut »Channel 13 News« gesagt haben: »Wir stehen vor der Erosion der bisher im Krieg erzielten Erfolge, weil keine Strategie für den Tag danach entwickelt wurde.«

Israels Armee hat eine bemerkenswerte Siegesbilanz. Sie gewann die ihr aufgezwungenen Kriege 1948, 1967 und 1973; sie trug dazu bei, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) 1996 den bewaffneten Kampf aufgab; sie hat ein gutes Jahrzehnt die Hisbollah abgeschreckt. Das Militär ist nicht nur ob der Partnerschaft mit den USA und anderen westlichen Staaten stark, seine Organisation, Ausbildung und Führung macht sie zu einer beeindruckenden Kampftruppe im Nahen Osten. Also lautet die vorherrschende Meinung: Israel, für das so viel auf dem Spiel steht, wird auch gegen die Hamas gewinnen. Unklar sei lediglich, in welchem Zeitraum und zu welchen Kosten.

Ist es wirklich so undenkbar, dass die israelische Armee auf ganz neue Art ihren Meister findet? Die Hamas ist es gewohnt, Schlachten zu verlieren. Sie muss nicht stark, sie muss nur standhaft sein. Der blitzartige Überfall auf Israel am 7. Oktober sowie der fortgesetzte Widerstand in Gaza inspiriert künftige Generationen von Kämpfern. Anders als Al-Qaida oder der Islamische Staat (IS), mit denen die Hamas oft verglichen wird, will die Terrortruppe ihren Sieg nicht durch eine kurze militärische Kampagne erringen. Sie hat Zeit, mannigfache Mittel und mit dem Iran ein potentes Hinterland.

Hamas sammelt in perfider, unmenschlicher Art und Weise die Kraft der Schwachen, steigert deren Wut. Hamas schürt Angst vor einem regionalen Krieg, setzt auf die Solidarität arabischer Völker, demontiert die Palästinensische Autonomiebehörde als mögliche Alternativmacht in Gaza. Hamas hat erreicht, dass grundsätzlich tief zerstrittene schiitische wie sunnitische Kräfte in der Gaza-Frage Gemeinsamkeit demonstrieren. Hamas polarisiert indirekt die politischen Lager in Israel und weltweit. Immer mehr Menschen in Europa schrecken vor den kriegerischen Exzessen der israelischen Armee zurück. In den USA nimmt die Debatte darüber Fahrt auf, ob sich das mächtigste Land der Erde weiter vorbehaltlos an die Seite Israels stellen kann. Denn in Washington registriert man sehr aktuelle israelische Versuche, die USA in eine noch direktere und damit unkontrollierbare Konfrontation mit Teheran zu ziehen.

Auf all diese Fragen, die vom Militär nicht beantwortet werden können, hat Prof. Dr. Efraim Inbar, Chef des Jerusalem-Instituts für Strategie und Sicherheit, eine simple Antwort: »Israel braucht einen schnellen, entscheidenden Sieg über die Hamas, vor allem, um die verlorene Abschreckung wiederherzustellen.« Denn: »Angst ist die beste politische Währung in dieser Region.«

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