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Marcel Reif im Bundestag: Sej a Mensch!
Der frühere Sportreporter sprach im Bundestag über die Geschichte seines Vaters
Als sich Anfang der 50er Jahre in Polen, wo wir lebten, wieder antisemitische Strömungen breitmachten, beschlossen meine Eltern, vor allem mein Vater: Einmal ist genug! Er hatte den Holocaust überlebt, die meisten aus seiner Familie nicht. Über den letztlich nicht tragfähigen Umweg Israel zog die Familie nach Deutschland, in das Land der Täter. Aber hier waren Freunde, waren Verwandte, die helfen konnten. Hier fanden wir ein Dach über dem Kopf, hier fand mein Vater Arbeit, um die Familie durchzubringen.
Das neue, andere Deutschland bot ihm jetzt eine zweite Chance auf anständiges, würdevolles Leben. Und hier wuchsen meine Schwester und ich auf – eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend. Fröhlich und sorgenfrei nicht zuletzt – das weiß ich heute –, weil mein Vater schwieg. Kein Wort über all das, was er erlebt, überlebt hatte. Er sprach nicht und ich fragte nicht. Ich würde gern behaupten: weil es seine Entscheidung war und ich sie respektiert habe. Vielleicht, auch. Aber vor allem war es meine Angst, Unsagbares hören, Unfassbares erfassen und Unerträgliches ertragen zu müssen: Bilder des Grauens, was man meinem großen, starken Vater angetan hatte. (...)
Mutter erzählte, wie eine Gruppe Juden mit meinem Vater auf der Flucht einen kleinen Jungen – ungefähr so alt wie sein Enkel – bei polnischen Bauern zurückließ, um überhaupt eine Chance zu haben. »Nach der Befreiung wollten sie den Jungen wieder abholen. ›Es tut uns leid. Die Deutschen kamen und da mussten wir das Kind die Klippe runterwerfen.‹ Und weißt du: Manchmal, wenn du mit deinem Sohn bei uns warst, hatte er auch diesen Jungen vor Augen.«
Hätte ich ihn fragen sollen, fragen müssen? Wäre es richtiger gewesen, besser, leichter für ihn und für mich? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich gewiss: Ich bin der Letzte, dem es zusteht, darüber zu urteilen! Im Nachhinein sowieso. Viel zu gern hatte ich als Kind und junger Mann diesen warmen, kuscheligen Mantel seines Schweigens angenommen, mich darin eingewickelt mit den Sorgen und Problemen eines Nachkriegs-Wirtschaftswunder-Sprößlings: die Latein-Note, Form und Farbe des ersten Autos, die Fußballerkarriere – Gegenwart nur und rosige Zukunft. Die Vergangenheit habe ich erst 50 Jahre später wirklich angenommen in den Gesprächen mit meiner Mutter.
Wobei: Gespräche? Drei Tage haben wir uns damals hingesetzt, sie hat erzählt, wir haben viel gelacht und noch mehr geweint. Und sie hat am Ende bestätigt, besiegelt, was mein Vater gewollt und geschafft hatte, nämlich: Es durfte nicht sein, dass auch noch seine Kinder von den furchtbaren Schatten heimgesucht, gequält werden, die seine Kindheit und Jugend verdunkelt, zerstört hatten. Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten.
Eine behütete, unbelastete, unbeschwerte Kindheit sollte, musste es sein. Er wollte diesen verschlossenen Raum in unserem Lebenshaus auch nicht mal einen Spalt breit öffnen – auch nicht für die »guten Geister«, die da ja ebenfalls wohnten: So hatte ihn der spätere Krupp-Manager Berthold Beitz aus einem Todeszug Richtung Vernichtungslager geholt und ihm das Leben gerettet. Ohne Beitz würde ich heute nicht hier stehen. (...)
Das alles weiß ich heute. Und noch etwas habe ich endlich – viel zu spät! – erkannt, begriffen, und das ist das Bedeutendste: Ich erinnere mich nicht an den Anlass und nicht an den Zeitpunkt, aber mir wurde irgendwann beinahe schlagartig klar, dass mein Vater ja doch gesprochen hatte und mir das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war (...) All das hat er in einen kleinen Satz gepackt – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel: drei Worte nur in dem warmen Jiddisch, das ich so vermisse: »Sej a Mensch!«, »Sei ein Mensch!« (...)
Und wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen – gerade heute aus diesem Anlass und gerade in diesem höchsten deutschen Hause: Dann lass ich Ihnen diesen kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater Leon Reif gesagt hat, lasse ich Ihnen diesen Satz hier: »Sej a Mensch!« – »Sei ein Mensch!«
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