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Noch ein Streik im Nahverkehr?
Wer eine klimafreundliche Verkehrswende will, muss mehr in den Nahverkehr investieren, meint Lakshmi Thevasagayam
»Nicht noch ein Streik«, könnte man beim Blick auf den bundesweiten Streiktag im Nahverkehr an diesem Freitag meinen. In über 130 Städten stehen Busse und Bahnen still, 90.000 Beschäftigte sind von den laufenden Tarifverhandlungen betroffen, alle Bundesländer außer Bayern sind dabei.
Diesmal geht es um Arbeitsbedingungen und bundesweite Mindeststandards bei Bus und Bahn, die für einen klimafreundlichen Verkehr eine wichtige Rolle spielen. Die Prognosen sehen schlecht aus: In den nächsten sechs Jahren geht jeder zweite Beschäftigte in Rente. Schon jetzt werden Fahrpläne oft nur erfüllt, weil die Fahrer*innen mit ihrer Freizeit und Gesundheit dafür zahlen. Die Fahrzeiten für Linien werden immer kürzer, teils fahren sie Neun-Stunden-Schichten mit vier Minuten Klopausen und trinken nicht oder stellen sich einen Eimer in die Fahrerkabine, um Verspätungen zu vermeiden. Ihr Wecker klingelt jeden Tag zu einer anderen Zeit. Oft erfahren Kolleg*innen erst drei Tage vorher ihren Dienstplan. Urlaube können nicht genehmigt werden, weil es sonst niemand gibt. Fahrerin Dobrinka erzählte mir, dass sie deshalb die Abschlussfeier ihres Sohnes verpasst hat. Kollege Mehran sieht seine Kinder häufig drei Tage nicht, weil die Schichten so liegen, dass er sie verpasst. Sabine erzählt, dass ihr Freundeskreis immer kleiner wird, weil alle wissen, dass sie keine Zeit hat.
Lakshmi Thevasagayam ist Ärztin, Klima- und Gesundheitsaktivistin und engagiert sich in der Antikohlebewegung.
Wegen der Arbeitsverdichtung im Nahverkehr ist die Krankenrate höher als in der Pflege: Jede*r fünfte Beschäftigte ist krank. Nicht selten wegen psychisch belastender Vorfälle, da häufig Linien ausfallen und Fahrgäste sich in überfüllte Busse quetschen. Immer öfter werden Fahrer*innen angegriffen; die Erzählungen reichen von Anspucken bis zu Messerattacken und krankenhausreif geschlagenen Kolleg*innen. Immer mehr von ihnen können nicht mehr, wechseln nach der Ausbildung den Job. Es ist absehbar, dass wegen der Berentung der Babyboomer weitere Linien gestrichen werden.
Wenn man bedenkt, wer alles abhängig ist von einem funktionierenden Nahverkehr, dann ist das ein massiver Eingriff in das Leben der sozial Schwächsten, die dann schauen können, wie sie vier Uhr mrogens zu ihrem Putzjob kommen. Es ist es ein Hohn für Menschen mit Behinderung, die darauf angewiesen sind, dass die Beschäftigten Zeit haben, den Bus abzusenken und die Rampe rauszufahren. Da rückt die Anbindung des Umlands in immer weitere Ferne.
Die Ampel-Regierung hat die Verdopplung der Fahrgastzahlen im Nahverkehr bis 2030 in ihrem Koalitionsvertrag stehen. Eine bessere Taktung, Angebotsoffensive und einen klimagerecht ausgebauten Nahverkehr, das geht nicht auf dem Rücken der Kolleg*innen. 16 bis 18 Milliarden Euro müssen jährlich von Minister Wissing investiert werden, um den ÖPNV für die Verkehrswende zu wappnen. In Hamburg ist schon zu sehen, was passiert, wenn die Arbeitsbedingungen sich nicht ändern: Linien werden an private Busfirmen ohne Tarifverträge abgegeben. Sie rekrutieren Fahrer*innen aus Osteuropa, die unter ähnlichen Bedingungen wie die Leiharbeiter im Spargelbetrieb und bei Tönnies arbeiten müssen. Es gibt nur eine Devise: Organisiert euch mit den Streikenden, bei den »Wir fahren Zusammen«-Gruppen, am Streikposten. Wir sehen uns auf der Straße.
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