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Alex Demirović: »Wie ein Steinwurf ins Fenster«

Alex Demirović spricht über kritische Gesellschaftstheorie im Handgemenge, Intellektuellenbilder und die konformistischen Rebellen von rechts

  • Interview: Lukas Geisler
  • Lesedauer: 6 Min.
Allein gegen das System? Die Bedingungen für Nonkonformismus wie Rebellentum haben sich mittlerweile stark verändert.
Allein gegen das System? Die Bedingungen für Nonkonformismus wie Rebellentum haben sich mittlerweile stark verändert.

Herr Demirović, wie kam es dazu, dass Ihre Studie neu verlegt wurde? Welche Aktualität hat sie heute – über 20Jahre später?

Die Neuauflage war eine dankenswerte Initiative des Verlegers Martin Birkner. Er fand, das Buch sei es wert, das Risiko einer Neuauflage einzugehen. Ich glaube auch, dass es einen Nutzen haben kann. Denn vieles, was über die ältere Kritische Theorie publiziert wird, nährt immer noch die Vorstellung, deren Vertreter hätten resigniert oder seien konservativ geworden. Auch wird die Kritische Theorie regelrecht missbraucht, um das Theorem einer klassenübergreifenden anonymen Herrschaft vertreten zu können. Was heute allerdings eine geringe Rolle spielt, sind Fragen nach Vernunft und Wahrheit im historischen Prozess. Angesichts des grassierenden gesellschaftlichen Wahns hat mein Buch vielleicht am meisten Aktualität.

Detailreich beschreiben Sie die Rückkehr von TheodorW. Adorno und Max Horkheimer aus dem Exil nach Frankfurt, den Wiederaufbau des Instituts für Sozialforschung und ihre Rolle bei der Etablierung der Disziplin der Soziologie in der Bundesrepublik sowie die Herausbildung der neuen Linken. Darin erschöpft sich die Studie aber nicht.

Ich wollte zu einer materialistischen Analyse der marxistischen Theorie selbst beitragen, über ihre Bedeutung im historischen Prozess. Konkret ist das die Bundesrepublik nach dem Nationalsozialismus. Die Studie ist auch ein Versuch, genauer zu verstehen, wie sich gesellschaftskritisches Wissen bildet und den Charakter einer wissenschaftlichen Disziplin annehmen konnte, wie es eine öffentliche Funktion erhielt und in welchen Praktiken und Institutionen es überliefert wird.

Interview
Alex Demirovic für den IV-Kasten auf der 19, Credits: Rosa-Luxem...

Alex Demirović ist Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Für das Wintersemester 2023/24 bekleidet er die Gastprofessur für kritische Gesellschaftstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Damit meinen Sie, dass sich Theorie gerade im Handgemenge, in Auseinandersetzungen entwickelt?

So in etwa. Es geht um die Art und Weise von Wissenspraktiken und darum, die Kämpfe näher auszuleuchten, in denen die Theorie selbst sich bildet und interveniert. Theorie ist wie ein Steinwurf ins Fenster, sagt Horkheimer, also selbst eine Form des sozialen Kampfes um die Emanzipation. So ist es auch mit der Kritischen Theorie, die nach der Rückkehr aus dem Exil nicht nur Anwendung von etwas ist, was in den 40er Jahren gedacht wurde. Adorno und Horkheimer nehmen die Entwicklungen des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus auf, die Veränderungen der Klassenkämpfe, die Folgen des Krieges und der Shoah.

Warum ist das wichtig herauszuarbeiten?

Die intellektuellen Praktiken, die Denkformen, müssen in die Theorie der Gesellschaft selbst hineingedacht werden. Sie stehen ja nicht außerhalb, sondern sind für den gesellschaftlichen Prozess von großer Bedeutung. Intellektuelle arbeiten die gesellschaftlichen Denkformen aus, in denen die sozialen Gruppen ihre Zusammenhänge, ihre Praktiken begreifen. Deswegen gibt es kulturelle Kämpfe um solche diskursiven Praktiken, um die Apparate, in denen die Gedanken erzeugt und distribuiert werden. Marx, Gramsci, Horkheimer und Adorno waren sich der Tatsache bewusst, dass die bürgerliche Gesellschaft das kritische Wissen gern verhindern, marginalisieren, abschütteln, unwirksam machen möchte.

So ist es allen vier marxistischen Theoretikern – Marx, Gramsci, Horkheimer und Adorno – ja auch ergangen.

Ja, sie wurden verfolgt und mussten ins politische Exil oder wurden eingesperrt. Deshalb stellt sich auch die Frage nach der Existenz derjenigen, die kritisches Wissen vertreten und ausarbeiten: Finden sie dafür die Arbeitsmittel, die Diskussionsmöglichkeiten, Orte der Publikation, der Überlieferung des Wissens, die Adressaten? Nichts davon ist selbstverständlich.

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Lassen Sie uns doch noch mal zum Titel Ihrer Studie kommen. Was macht nonkonformistische Intellektuelle aus?

Nonkonformismus heißt: die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft aushalten; nicht den vorherrschenden Gewohnheiten der Gesellschaft folgen, die von Mächtigen konzipiert und durchgesetzt werden; die Differenz, das Anderssein schätzen; sich dem Rassismus und Antisemitismus entgegenstellen, wie auch den naturzerstörenden Kräften; die Kommodifizierung in allen Spielarten unterlaufen; die vorherrschende gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Begriffe, in denen in unseren kapitalistischen Gesellschaften gedacht wird, grundlegend infrage stellen – also auch die Funktion der Intellektuellen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung selbst. Es war nie einfach. Heute kommt als Schwierigkeit hinzu, dass der neoliberale Kapitalismus auch aus Diversität, Abweichung und Flexibilität ein Geschäft macht und die Rechte sich nonkonformistisch gibt. Ich denke, das Modell eines transformativen Intellektuellen könnte helfen, gegen Lüge und Ressentiment und angesichts neuer Katastrophen verbindliche Begriffe und genaue empirische Kenntnis für vernünftige Verhältnisse zu entwickeln.

Bleiben wir noch kurz beim Nonkonformismus: Im Nachwort sagen Sie, dass der Begriff heute zu unscharf, zu vieldeutig ist.

Wie alle unsere Begriffe hat auch der des Nonkonformismus einen Zeitkern. Er ist immer noch brauchbar, aber wir müssen seine historische Bewegung durchdenken. Unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen galt eine bestimmte Normalitätserwartung: Alle sollten relativ standardisiert leben. Seit den 80er Jahren haben sich die Lebenspraktiken differenziert, der Neoliberalismus fördert das, um den Konsumismus auf höherer Stufenleiter zu reproduzieren. Die neue Rechte hat an den Begriff Nonkonformismus ebenso wie an andere Begriffe angeknüpft. Sie nehmen für sich in Anspruch, nonkonformistisch und demokratisch zu sein, sie behaupten, für ihre angeblich kritischen Meinungen verfolgt zu werden. Autoritäre Orientierungen werden dadurch modernisiert. Die Rechten ertragen Ambivalenzen nicht und nutzen die objektiven Widersprüche aus, indem sie sie als Heuchelei der demokratischen Politik oder der Linken anprangern. Ihre Ressentiments machen sie durchaus mutig, dann wenden sie sich patzig und gewalttätig gegen Vernunft und demokratische Mehrheiten – was nicht dasselbe ist. Es handelt sich aber um reaktionäre Bewegungen, denen es um eine völkische Vergesellschaftung geht, in der Gewalt herrscht.

Was sind die zentralen Merkmale dieses regressiven Nonkonformismus?

Verteidigung von autoritärer Männlichkeit, Frauen- und Schwulenfeindlichkeit, Ignoranz gegenüber der Klimakrise, Rassismus, Empathieverlust, historischer Revisionismus. Lüge und Gewalt sind wichtige Merkmale dieser rechten Politik: einerseits wird der große Bevölkerungsaustausch beschworen, andererseits plant die Rechte selbst die Abschiebung von Millionen von Menschen und ist wieder einmal bereit zur Härte der notwendigen Grausamkeit. Man kann sich vorstellen, dass dies in neuer Vernichtungspolitik mündet. Adorno hat recht: Was einmal geschah, kann sich wieder ereignen, wenn die Verhältnisse nicht geändert werden, unter denen das Unheil ausgebrütet wird. Adorno hat noch weiter recht, wenn er diese Art von widersprüchlicher Dynamik als rebellischen Konformismus charakterisiert. Nonkonformismus ist es im eigentlichen Sinne nicht.

Dennoch sprechen Sie davon, dass es heute »Transformationsintellektuelle« braucht?

Ja, damit schließe ich auch an Herbert Marcuse an. Wir haben und benötigen Sensibilität für Freiheit in der Sprache, in den Geschlechterverhältnissen, in unseren gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Aber eine solche transformatorische Praxis ist kein Programm bürgerlicher Innerlichkeit. Es geht um das genaue Verständnis der gesellschaftlichen Veränderungsnotwendigkeit, damit wir nicht überrollt werden, sondern Freiheit der Gestaltung gewinnen. Das heißt, veränderte Beziehungsweisen zwischen den Geschlechtern, zwischen Älteren und Jüngeren, ein Umbau des Produktions- und Dienstleistungsapparats ohne Ausbeutung, eine andere Lebensweise, die den Umbau der Ernährung, der Mobilität, der Arbeit, des Wohnens, der Lern- und Wissensverhältnisse ermöglicht und weiter denkbar macht. Denn wir wissen aufgrund der Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte schon so viel, aber vieles wird seit langem von uneinsichtigen, reaktionären Kräften blockiert. Phantasie und Wissen müssen an die Macht kommen, damit die Menschheit ihre Verhältnisse zu sich und zur Natur endlich frei gestalten kann.

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