Rondenbarg-Verfahren: Die Hoheit im Saal haben die Angeklagten

Am 8. Februar wird der G20-Prozess in Hamburg fortgesetzt. Viele Vorwürfe der Staatsanwaltschaft sind bereits widerlegt

Vermummen, Rauchkörper zünden, Gegenstände werfen: Training der Hundertschaft der Bundespolizei aus Blumberg bei Berlin, die im Juli 2017 am Rondenbarg eine zentrale Rolle spielte.
Vermummen, Rauchkörper zünden, Gegenstände werfen: Training der Hundertschaft der Bundespolizei aus Blumberg bei Berlin, die im Juli 2017 am Rondenbarg eine zentrale Rolle spielte.

Plötzlich ist Leben in dem drögen Gerichtssaal des Hamburger Landgerichts. Im fortwährenden Wechsel tragen zwei Beschuldigte, im linken und rechten Teil des Raums sitzend, ihre politische Prozesserklärung im Namen aller Angeklagten vor. Sie begründen, warum es richtig war, 2017 gegen das Gipfeltreffen in Hamburg zu demonstrieren: »Scholz, Merkel, Trump, Erdoğan, Putin, Macron – sie stehen stellvertretend für die Politik, mit der sich Konzerne diesen Erdball unter den Nagel reißen, mit der durch Krieg, Armut und Klimawandel Millionen die Lebensgrundlage entzogen wird.«

Die Angeklagten durchbrechen an diesem 18. Januar, dem ersten Prozesstag im neuen G20-Verfahren, die juristischen Regeln, indem sie selbst das Wort ergreifen und es sich abwechselnd immer wieder selbst erteilen: »Was uns hier und heute eint, ist der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Menschen nicht vor Hunger sterben, obwohl es genug zu essen gibt, in dem sich niemand unter Bombenhagel zur Nachtruhe legen muss, in der diese Grausamkeiten zur Vergangenheit gehören, in der die Natur geschützt wird und in der alle zusammen ein menschenwürdiges Leben führen können.«

Das hat auch die Zuhörer*innen emotional bewegt. Lange applaudieren sie und sind in diesem Moment so präsent im Saal, dass ihre enge Verbundenheit mit den Angeklagten spürbar ist, trotz der riesigen Plexiglasscheibe, die den Zuschauerraum vom eigentlichen Prozessgeschehen abtrennt.

Zusammenhalt bei Wind und Wetter

Solidarität war schon am frühen Morgen des kalten Januartages vor dem prächtigen Gerichtsgebäude am Hamburger Sievekingplatz zu sehen. Bereits vor acht Uhr, als die Türen zum Gebäude noch verschlossen sind, wird ein paar Schritte davon entfernt ein Zelt mit Infotisch aufgebaut und Prozessbesucher*innen heißer Tee und Kaffee angeboten. Die angemeldete ganztägige Kundgebung auf dem teils schneebedeckten Gehweg wird vom Solidaritäts-Service-Team, abgekürzt SoSeTe, organisiert. Diese Gruppe hat sich nach dem G20-Treffen gegründet und begleitete von Beginn an bei jedem Wetter alle Verhandlungstage, die gegen Gipfelkritiker*innen terminiert wurden.

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Kolleg*innen von Verdi sind mit ihren Fahnen erschienen, auch der Schauspieler Rolf Becker zeigt seine Solidarität. Rechtsanwält*innen, ein Parlamentarier der Linkspartei und ein Aktivist von BlockG20 sprechen zu den Versammelten über die grundlegenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit während der Gipfeltage 2017 und die Gefahren für die Grundrechte, die durch das Gerichtsverfahren drohen. Um 9.30 Uhr soll drinnen die Verhandlung beginnen.

Im Hochsicherheitssaal

Die fünf Angeklagten mit ihren acht Rechtsanwält*innen sitzen mitten im Gerichtssaal. Erhöht vor ihnen nehmen die drei Berufsrichter*innen und zwei Schöff*innen Platz, rechts vorne die beiden Staatsanwält*innen. Alles wirkt etwas beengt, sehr viel mehr Personen hätten in den Raum nicht mehr hineingepasst.

Die Angeklagten lächeln, während sie in den Prozesspausen umhergehen und mit ihren Mitangeklagten und Verteidiger*innen sprechen. Sie haben allen Grund zur Freude: Sie agieren zusammen mit ihren Anwält*innen, die ebenfalls Stellungnahmen abgeben und damit immer wieder die politische Dimension des Verfahrens herausarbeiten. Gemeinsam haben sie die Hoheit im Saal erstritten. Das Zusammenspiel von Angeklagten, Anwält*innen und Besucher*innen an den ersten beiden Prozesstagen war ein Lehrstück in offensiver Prozessführung wie aus einem Handbuch der Roten Hilfe.

Der Verhandlungssaal mit raumtrennender Plexiglasscheibe steht symbolisch für die Anklage: Wir befinden uns im Hochsicherheitssaal des Landgerichts, in dem die Justiz in der Regel über Menschen urteilt, die öffentlich als Terroristen gebrandmarkt werden. Sowohl Bundesinnenminister Thomas de Maizière als auch Hamburgs Innensenator Andy Grote haben damals G20-Protestierer mit Terroristen assoziiert. Passend dazu gibt es scharfe Einlasskontrollen. Die Zuhörer*innen müssen durch Sicherheitsschleusen wie am Flughafen, am ersten Prozesstag sogar gleich zweimal, dabei ihre Schuhe ausziehen und Handys, Taschen, Bücher und andere Gegenstände abgeben.

Demontage der Anklage

Am zweiten Prozesstag, außer dem »nd« ist kein Pressevertreter mehr anwesend, werden die ersten Beweismittel der Staatsanwaltschaft in Augenschein genommen. Etwa ein Dutzend Foto- und Filmaufnahmen zeigen drei farbige Demonstrationszüge, deren Teilnehmer*innen überwiegend blau, grün bzw. schwarz gekleidet sind. Am 7. Juli 2017 gegen sechs Uhr morgens brechen sie vom Protestcamp in Altona auf. Ziel ist die etwa sechs Kilometer entfernte Innenstadt, wo Blockaden der Zufahrtswege für die Gipfelgäste angekündigt sind. Aber die dunkelfarbige Demo mit etwa 200 Teilnehmer*innen, die durch das Gewerbegebiet Rondenbarg geht und aus der vereinzelt Pyrotechnik und andere Gegenstände geworfen werden, kommt nicht weit. Sie wird von der Polizei gestoppt, eine zweistellige Zahl von Demonstrant*innen verhaftet.

Die Staatsanwaltschaft rechnet die fünf Angeklagten diesem Demonstrationszug zu. Die Aufnahmen, darunter auch von Zivilpolizist*innen aus der Demonstration gefilmte Nahaufnahmen, zeigen jedoch, dass die Vorwürfe der Anklage nicht aufrechtzuerhalten sind: Die Demonstrationsteilnehmer*innen liefen nicht wie behauptet marschierend in einer geschlossenen Formation, waren nicht einheitlich vermummt und nicht einheitlich schwarz gekleidet. Ihr Gang glich eher einem Schlendern. Mit Sprechchören und Fahnen gaben sie klar ihre Meinung kund. Die bisherigen Videos zeigen eine politische Versammlung wie sie das Grundgesetz garantiert. Dies stellen die Verteidiger*innen wiederholt fest. Rechtsanwalt Sven Richwin ergänzt abschließend: »Jetzt wurde viel gesagt, was wir gesehen haben. Was wir nicht gesehen haben, waren die Angeklagten.« Diese sind auf keinem der Videos zu sehen.

Bis zum Ende des Prozesstags hat die Staatsanwaltschaft ein peinliches Bild abgegeben. Von der Vorsitzenden Richterin zur Äußerung über das Filmmaterial gebeten, erwidert die Anklägerin letztlich nur: »Wir sehen uns nicht veranlasst, eine Stellungnahme abzugeben.« Das Publikum lacht sie dafür aus.

Experten auf den Zuschauerbänken

Die etwa 80 Zuhörer*innen kommen aus allen Altersgruppen. Sie sind – wie die fünf Angeklagten – aus der ganzen Republik angereist. Einzelne haben dafür über 600 Kilometer zurückgelegt. Unter ihnen sind auch Angehörige einer Hamburger Antirepressionsgruppe, die in den vergangenen Jahren sämtliche öffentliche Verhandlungen gegen G20-Demonstrant*innen kritisch beobachtet haben. Aus ihren Recherchen ist der Dokumentarfilm »Landfriedensbruch für alle – G20, Rondenbarg und die Folgen« entstanden, in dem auch Betroffene zu Wort kommen.

Aus den vergangenen Gerichtsverhandlungen kennen die langjährigen Prozessbeobachter*innen die Filmaufnahmen des Demonstrationszugs, die sie wissend kommentieren: Sie verweisen auf Nachzügler*innen, die verschlafen hinterher tappen, um die Proteste nicht zu verpassen. Sie identifizieren zivile Polizeibeamte wie die Frau auf dem Fahrrad, die heimlich Videoaufnahmen tätigt. Es ist amüsant und spannend, ihnen zuzuhören. An Unterhaltsamkeit ist während des laufenden Verfahrens kein Mangel. Die weite Anreise, so der Eindruck, hat sich für alle gelohnt.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Bereits am Vortag hat Rechtsanwalt Richwin auf die Einsatzhundertschaft der Bundespolizei aus Blumberg bei Berlin aufmerksam gemacht, die am Morgen des 7. Juli 2017 am Rondenbarg eine zentrale Rolle spielte. Die berüchtigten Blumberger Polizist*innen sind bekannt dafür, in dunkler ziviler Bekleidung das Vermummen, das Zünden von Rauchkörpern und das Werfen von Gegenständen auf Kollegen, dabei aber Treffer vermeidend, zu trainieren. Mindestens vier zivile Beamte waren laut bisheriger Beweismittel der Staatsanwaltsschaft im Zusammenhang mit der Demo am Rondenbarg eingesetzt.

Das verweist auf ein verfassungsrechtliches Problem des Verfahrens: Ein Agieren verdeckter Polizeibeamter kann dazu führen, dass Demonstrant*innen beschuldigt, angeklagt und vor Gericht gestellt werden, selbst wenn sie selbst keine Straftaten begehen. Tatsächlich wird den fünf Angeklagten keine eigenhändige Handlung vorgeworfen. »Sollte diese Ansicht Einzug in die Rechtsprechung finden, wäre das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nahezu abgeschafft«, so Richwin. Für Protestwillige wäre fortan »das Risiko einer Teilhabe an jeder beliebigen Versammlung unkalkulierbar«.

Die Anklage scheint in sich zusammenzubrechen. Wohlwissend, dass eine Verurteilung juristisch schwierig wird, wenn Agents Provocateurs unter den Demonstrant*innen waren, unterbreitete die Vorsitzende Richterin in Absprache mit der Staatsanwaltschaft ein unmoralisches Angebot: Das Verfahren könne gegen eine geringe Geldstrafe eingestellt werden, wenn sich die Angeklagten allgemein von Gewalt distanzieren würden. Eine Erklärung blieb die Richterin schuldig, warum sie eine Distanzierung verlangt, obwohl die fünf keiner Gewalthandlung beschuldigt werden.

Am 8. und 9. Februar sind die nächsten Prozesstage terminiert. Dann wird bekannt, wie die Angeklagten zu diesem Angebot stehen. Schon zu Prozessbeginn haben sie jedoch alles Nötige zum Thema gesagt: Ihre bewegenden Worte waren eine deutliche Absage an die Gewalt der Profitlogik des Kapitalismus, an die Gewalt der Politik der G20-Staaten und an die Gewalt der deutschen Polizei.

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