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Hashomer Hatzair: Die Wächter
Der sozialistische Jugendverband Hashomer Hatzair belebt in Berlin säkulare jüdische Traditionslinien
Das Mädchen lacht. »Ich pflanze einen Apfelbaum.« Der Junge neben ihr: »Ich pflanze einen Apfelbaum und einen Birnenbaum.« Die Mutter schließt sich an: »Ich pflanze einen Apfelbaum, einen Birnenbaum und einen Kirschbaum…« Und schon muss das erste Kind in der Runde überlegen. Wir sind zu Gast bei der Jugendorganisation Hashomer Hatzair, genauer gesagt bei der Feier zum jüdischen Feiertag Tu biSchevat. »…Apfelbaum, einen Birnenbaum, einen Kirschbaum und einen Pfirsichbaum…«
Tu biSchevat, das Neujahrsfest der Bäume, liege eigentlich schon ein paar Tage zurück, wie die jugendliche Spielleiterin erklärt. Sie dürfte keine 16 Jahre alt sein und trägt das weltweit bei Hashomer Hatzair typische Blauhemd, mit weißen Kordeln und weißen Buchstaben, was ein wenig aussieht wie bei den Pfadfindern, und das soll es auch. Einer der Grundsätze hier ist, dass die Jugendlichen ihre Aktivitäten selbst planen und durchführen. Die Referentin hat sich bestens vorbereitet: Tu biSchevat sei eine Art Erntedankfest und gehe auf das dritte Buch Mose zurück, wo in großer Zuversicht geschrieben steht: »Wenn ihr in das Land kommt, sollt ihr allerlei Bäume pflanzen!« Eben diese Bäume aus der Thora sind der Grund, warum die Kinder nicht das Original spielen, kein »Ich packe meine Koffer«.
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Vor dem Jugendklub nahe der Berliner Ringbahn stehen Sicherheitsleute, wie zu jedem Treffen seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel. Daniel Goldstein, der Pressesprecher, hat erst am Tag zuvor die Mail geschickt mit dem genauen Treffpunkt. »Die Messiba, das Zusammentreffen der Community des Ken Berlin, startet um 16 Uhr.« Man habe aufgrund der derzeitigen Lage etwas strengere Sicherheitsbestimmungen und auch einen Ordnungsdienst an Ort und Stelle. Einige Eltern, die ihre Kinder zum Ken (hebräisch für Nest) begleiten, sind israelische Staatsbürger, die in Berlin leben und arbeiten. Bei den Veranstaltungen wird aber auch Russisch, Polnisch und Spanisch gesprochen, vor allem aber Deutsch. Die Berliner Ortsgruppe der weltweiten Organisation Hashomer Hatzair (hebräisch für »der junge Wächter«) sieht sich als deutsch-jüdisches Projekt.
Das metaphorische Kofferpacken hatte früher einmal eine ganz reale Bedeutung. Der 1913 im polnischen Galizien gegründete Kinder- und Jugendverband bereitete die jungen Shomrim (hebr.: Wächter) für die Alijah (hebr.: Heimkehr) vor, für die Rückkehr nach Palästina-Erez Israel. Und ihrer waren es nicht wenige. Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Hashomer Hatzair etwa 70 000 Mitglieder in 35 Ländern und rettete so Tausenden Kindern und Jugendlichen das Leben.
Wobei schon immer zwischen zwei Verbänden unterschieden wurde: die israelische Organisation, die schon vor der Staatsgründung im britischen Mandatsgebiet Palästina aktiv war (und heute um die 14 000 Mitglieder hat) und das World Movement mit derzeit 4500 Shomrim. Ab 1930 war Hashomer Hatzair auch in Deutschland aktiv.
Mit dem 1. September 1939, dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen, avancierten dann Teile des Verbandes zu einer jüdischen Untergrundorganisation, die gegen die Wehrmacht kämpfte und dafür einen hohen Blutzoll erbrachte, so auch im Jahr 1943 beim Aufstand im Warschauer Ghetto. Viele Mitglieder kämpften später auch in Palästina in den Reihen der Haganah gegen die britische Mandatsmacht. In Israel ist Hashomer Hatzair fast so etwas wie eine Legende. Die »jungen Wächter«, die heutzutage zum Umfeld der linken Meretz-Partei gerechnet werden, haben Dutzende Kibbuzim mitgegründet.
Seit 2012 gibt es Hashomer Hatzair als eigenständige Organisation auch wieder in Deutschland. Nitzan Menagem, die dem Berliner Verband vorsteht und im Berufsleben Projektmanagerin in der politischen Bildungsarbeit ist, erzählt von zaghaften Annäherungsversuchen mit der Jüdischen Gemeinde Berlin. »Wir sind ein jüdischer Jugendverband, der säkular ist.« Zu Tu biSchevat feiere man die Natur, nicht die Thora. Hashomer Hatzair fühle sich einer säkularen jüdischen Tradition verpflichtet und setze sich für die Interessen von Kindern und Jugendlichen ein.
Im Landesjugendring Berlin arbeiten die Aktiven und Betreuer*innen eng mit den Falken zusammen, dem SPD-nahen Kinder- und Jugendverband. Bei diesen, im Luise-und-Karl-Kautsky-Haus in Friedenau, haben sie bislang auch ihr Büro. Der Ken Berlin zählt mittlerweile über 300 Mitglieder, etwa 80 davon sind jünger als 18 Jahre. Manche haben »nur« einen jüdischen Vater oder Großvater und gelten nach den Regeln des orthodoxen Judentums nicht als Juden. »Aber das ist uns egal«, sagt Daniel Goldstein, der Pressesprecher. Sein Großvater war Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, hat Auschwitz und den Todesmarsch nach Buchenwald überlebt. Kurt Goldstein, der langjährige Rundfunkintendant der »Stimme der DDR«, suchte seine politische Heimat nicht im Zionismus. Das sei aber eine andere Geschichte, sagt sein Enkel, der nun auch schon Ende 40 ist.
»Um vorwärtszukommen, muss man seine Vergangenheit kennen«, lautet ein Sprichwort bei Hashomer Hatzair. Mindestens sieben Shomrim gehörten zur Herbert-Baum-Gruppe, kämpften im Widerstand gegen die Nazis. Für die Suche nach den früheren Mitgliedern in Deutschland wurde der Ken Berlin im vergangenen Jahr mit dem vom Deutsch-Israelischen Freundschaftsforum verliehenen Shimon-Peres-Preis ausgezeichnet.
Nitzan Menagem will so bald wie möglich nach Chile fliegen, »zu Rudi«, wie sie mit strahlendem Lächeln erzählt. Rudi Heymann ist das einzige noch lebende Mitglied des früheren Berliner Ken. Demnächst wird er 103 Jahre alt. 1938, im Alter von 17 Jahren, musste er aus Berlin fliehen und lebte erst in einem Kibbuz in Britisch-Palästina, wo er sich dann 1942 der britischen Armee anschloss, um in der Jüdischen Brigade gegen die Deutschen zu kämpfen. Für den Youtube-Kanal von Hashomer Hatzair Berlin haben Jugendliche ein Interview mit Heymann geführt.
Ein Stück Geschichte ist auch Nitzan Menagem, die Vorsitzende des Ken Berlin. Ihre Eltern haben sich bei Hashomer Hatzair kennengelernt, in Israel, wo sie auch aufgewachsen ist. »Ich bin so froh«, sagt die junge Frau, »dass ich eine Kindheit in Israel hatte, ohne Antisemitismus.« Erst will sie darüber nicht reden: Aber Judenhass sei genau das, was sie in den vergangenen Monaten in Berlin erlebt habe. Beinahe ebenso schlimm sei die Erwartungshaltung, Hashomer Hatzair Berlin und auch sie als Vorsitzende sollten doch endlich eine Erklärung zum Gaza-Krieg abgeben. »Politische Statements aber sind gar nicht unser Job. Wir machen Kinder- und Jugendarbeit.« Mehr will Nitzan dazu nicht sagen. Auf die Frage aber, ob sie am 7. Oktober Freunde verloren habe, etwa in den überfallenen Kibbuzim, stockt sie. In den Augen hinter der Vintage-Hornbrille sammeln sich Tränen. Nitzan spricht jetzt leise, aber deutlich: »Das waren unsere Genossen, die ermordet wurden. Leute aus der Friedensbewegung. Auch Frauen und Kinder.«
Gemeinsam mit den Falken sammelt Hashomer Hatzair Berlin Spenden für die zerstörten Kibbuzim. Das Geld ist für die Arbeit mit den evakuierten Juden und Nichtjuden bestimmt, unter anderen für die Notunterkünfte in Aschkelon, Aschdod und Be'er Scheva.
Hashomer Hatzair wird in Berlin keine Koffer packen. Aber Kisten. Dank der Unterstützung durch die Deutsche Postcode-Lotterie und von Fördermitgliedern sucht man derzeit nach eigenen Räumen. Das Team hat noch viel vor. Wie jedes Jahr wollen die Shomrim ein Sommercamp organisieren, noch dazu einen queeren Hebräisch-Kurs. Und nicht zu vergessen das Purimfest. Auf die Frage, ob auch Gojim, also Nichtjuden, ihre Kinder zu Hashomer Hatzair schicken könnten, sagt Nitzan: »Das geht schon.« Sie lacht laut. »Aber eines muss klar sein: Wir feiern kein Weihnachten!«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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