»Nach Europa kommst du nur übers Meer«

Viele Migranten aus Afrika sind von ihrer dramatischen und lebensgefährlichen Flucht traumatisiert

  • Andreas Boueke, Sevilla
  • Lesedauer: 8 Min.
Ein Boot mit 156 Personen an Bord hat die Überfahrt geschafft und legt auf der Kanaren-Insel El Hierro an. Die Fluchtroute über den Atlantik gilt als besonders gefährlich.
Ein Boot mit 156 Personen an Bord hat die Überfahrt geschafft und legt auf der Kanaren-Insel El Hierro an. Die Fluchtroute über den Atlantik gilt als besonders gefährlich.

»Du musst dein Herz zurücklassen«, sagt der junge Marokkaner Driss. In seiner Heimatstadt Marrakesch war er Grundschullehrer. Doch der Lohn reichte nicht aus, um seiner Familie zu helfen, ihre Armut zu überwinden. Deshalb beschloss er, Marokko zu verlassen. Zuerst fuhr er ein paar Mal mit einem Freund an die Küste des Mittelmeers, um das Schwimmen durch die Wellen zu üben. Dann machten sich die Beiden auf den Weg, ohne ihren Müttern von dem gefährlichen Plan zu erzählen. »Du musst genau wissen, was du tust«, sagt Driss. »Du darfst nicht auf dein Herz hören oder an deine Mutter denken, die zu Hause auf dich wartet. Du musst alle Gedanken darauf richten, dass du bald in Spanien sein wirst und ein neues Leben in Europa beginnst. Du konzentrierst dich auf das Ziel, das Leben deiner Familie zu verbessern. Sie braucht deine Hilfe. Wenn du fokussiert bleibst, verschwindet die Angst.«

Manuel Vicente, Leiter der Stiftung Sevilla Acoge, bezeichnet das Mittelmeer als Massengrab. »Niemand kann sagen, wie viele Leichen auf dem Meeresgrund liegen. Die Rede ist von über 30 000 Migranten, die während der vergangenen zehn Jahre bei der Überfahrt verschwunden sind.«

Die Büroräume der Stiftung Sevilla Acoge liegen zwischen einigen Pfeilern der Puente del Cristo de la Expiración. Die Brücke führt ins Zentrum der andalusischen Hauptstadt. Manuel Vicente kennt viele afrikanische Männer, die seit ihrer Jugend mit dem Gedanken gespielt haben, nach Europa zu kommen. »Sie glauben an den Mythos eines europäischen Paradieses und wollen den Kontinent der besseren Lebenschancen erreichen.«

Am 1. November 1988 wurde auf einem Strand von Tarifa, dem südlichsten Ort des europäischen Festlands, die Leiche eines jungen Marokkaners gefunden. Heute gilt dieser Mann als das erste dokumentierte Todesopfer der Migration über das Meer zwischen Afrika und Spanien. Seither wurden ungezählt viele leblose Körper angespült. Es gibt keine offiziellen Angaben über die Zahl der Toten. Das wundert Manuel Vicente nicht: »Menschenrechte sind ein Privileg der Weißen, der Europäer, der Nordamerikaner. Für sie gibt es Menschenrechtsorganisationen, Verfassungen von Staaten, anerkannte Rechte. Aber in vielen Ländern des Südens haben Menschenrechte überhaupt keinen Wert. Dort werden deine Rechte nur dann anerkannt, wenn du dafür zahlst.«

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Die spanische Regierung unter Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte im zweiten Halbjahr 2023 die Ratspräsidentschaft der EU inne. Der sozialistische Wirtschaftswissenschaftler hat die sechs Monate dazu genutzt, die Beziehungen Europas zu den Herkunftsländern afrikanischer Flüchtender zu verbessern und Programme zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu stärken. Eine aktive Wirtschafts- und Entwicklungspolitik soll dazu beitragen, dass weniger Menschen nach Europa aufbrechen. Vor allem die nord- und westafrikanischen Länder sollen Hilfen bekommen, sodass sie vor Ort Bedingungen schaffen können, die es ihren migrierten Landsleuten ermöglichen zurückzukehren.

Die Vereinigung Cardjín in der alten spanischen Hafenstadt Cádiz verfolgt andere Ziele. Ihr Direktor Juan Carlos Carbajal unterstützt Migranten in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft. Der kräftige Mann mit angegrautem Bart ist empört über die Haltung der EU gegenüber den nordafrikanischen Mittelmeerstaaten: »Wir schaffen immer größere Barrieren und bezahlen andere dafür, dass sie auf dem Meer Wache schieben. Ethisch betrachtet ist das besonders schmutzig. Europa will ein Hort der Menschenrechte sein, aber in Wahrheit stiften wir andere Länder dazu an, die Menschenrechte zu verletzen.«

Als Spanier kann Juan Carlos Carbajal an den Anlegestegen der Häfen Algeciras oder Tarifa ohne Probleme an Bord einer Fähre steigen und für 30 oder 35 Euro nach Marokko übersetzen. »Umgekehrt ist das nicht möglich«, klagt er. »Ein Marokkaner ohne Visum oder ein Flüchtling aus der Subsahara muss über 1000 Euro zahlen, um in ein einfaches Boot zu steigen, auf dem er sein Leben riskiert. Diese Menschen sind auf mafiöse Schlepperbanden angewiesen, die es sich zunutze machen, dass zwar Handelsgüter aus Afrika ohne Probleme und legal nach Europa eingeführt werden können, Personen aber nicht.«

Der junge Marokkaner Driss hat die Entscheidung getroffen, an der Atlantikküste Marokkos in See zu stechen. Dort kontrolliert das marokkanische Militär viel weniger streng. Am Tag der Abfahrt wusste der durchtrainierte Mann, dass er sein Leben aufs Spiel setzt. In den Jahren zuvor hatten mehrere seiner Freunde und auch Familienangehörige versucht, Europa zu erreichen. Einige sind verschwunden und nie wieder aufgetaucht. »Das ist völlig normal für uns«, wiegelt Driss ab. »Wenn ich mich heute auf den Weg machen würde und dann hörte, dass es Tote auf dem Meer gegeben hat, würde ich mir deshalb keine Gedanken machen. Die Reise muss weitergehen. Solche Nachrichten ändern nichts an meiner Entscheidung. Auf dem Meer gibt es nur zwei Möglichkeiten – du schaffst es oder du musst dich vom Leben verabschieden: Adiós.«

Juan Carlos Carbajal hält es für einerlei, wie viele Barrieren die EU aufstellt. Die Zahl der Migranten wird langfristig weiter steigen, so oder so: »Vor 30 Jahren sind die Menschen ohne Probleme über die Meerenge des Mittelmeers gekommen. Als es dann immer mehr Kontrollen gab, haben die Schleuser schnellere Boote eingesetzt. Daraufhin hat die Küstenwache ihre Abwehrmechanismen verbessert. Also sind die Migranten auf andere Routen ausgewichen. Als trotzdem immer mehr Boote gestoppt und die Besatzungen eingesperrt wurden, begannen die Leute, über die Kanarischen Inseln nach Spanien zu kommen. Als die EU die marokkanischen Behörden bezahlte, verlagerten sich die Routen nach Algerien und Libyen. Es ist jedes Mal dasselbe: Je mehr Sperren geschaffen werden, desto mehr Aufwand betreiben die Migranten.«

Manchen Afrikanern, denen es gelungen ist, spanischen Boden zu erreichen, ist der Schock der furchtbaren Erlebnisse noch Wochen später anzusehen. Juan Carlos Carbajal erinnert sich an ein paar Gäste der Vereinigung Cardjín, Überlebende eines Bootsunglücks, bei dem über 60 Menschen gestorben sind: »Nur zehn oder zwölf wurden gerettet. Das ist eine traumatische Erfahrung. Wir nennen das den Schmerz der Migration.«

Seit 2003 veröffentlicht die Menschenrechtsvereinigung Andalusiens APDHA Jahr für Jahr den Bericht »Menschenrechte an der Südgrenze«. Die Datensammlung mit Analysen will auf die Verletzungen der Rechte der Migranten aufmerksam machen. Die Sozialwissenschaftlerin Ana Rosado koordiniert die Arbeit der Autorinnen und Autoren, sammelt Fotos und beschäftigt sich mit Statistiken des Todes. »Wir haben 14 000 Personen gezählt, die im Laufe von 30 Jahren bei dem Versuch gestorben sind, Spanien zu erreichen. 40 Prozent dieser Menschen kamen in den letzten drei Jahren ums Leben. Das liegt auch daran, dass immer mehr Migrierende auf die Atlantikroute ausweichen, um die Kanarischen Inseln zu erreichen. Doch die Entfernung auf dem Ozean ist viel größer als übers Mittelmeer. Die Fahrt auf den Booten der Schleuser dauert länger und die Bedingungen sind gefährlicher. Wenn ein Boot kentert, kommen fast alle Passagiere um.«

Der junge Marokkaner Driss musste 1200 Euro zahlen, um sich einer Gruppe von 40 Personen anzuschließen, die auf einem kleinen Boot in See stachen. Ihr Ziel: die Kanarischen Inseln. »Um drei Uhr morgens ging es los, an einem Dienstag. Angekommen sind wir am Freitagmorgen. Ich kann nichts Gutes über diese Fahrt erzählen. Die Wahrheit ist: Es war furchtbar. Wir waren uns sicher, dass wir sterben würden. Die Wellen waren riesig. Du hast die ganze Nacht über Angst und auch am Tag und dann wieder in der Nacht.«

Viele der Boote, die von den Stränden im Süden Marokkos aus aufs offene Meer fahren, sind nur eingeschränkt seetüchtig. Zudem sind die Wetterextreme auf dem Atlantik viel heftiger und häufiger als auf dem Mittelmeer. »Wenn du mitten auf dem Ozean bist, kannst du nichts tun«, sagt Driss. »Unser Boot wurde von einem jungen Kerl gesteuert. Ich weiß nicht, ob er irgendwelche Erfahrung hatte. Wer Glück hat, überlebt, wer Pech hat, stirbt. Es macht keinen Unterschied, ob du schwimmen kannst oder nicht. Bei hohem Seegang überleben auch die besten Schwimmer nicht lange.«

Manche Boote kentern nur wenige Kilometer vom Land entfernt. Oder Passagiere springen panisch von Bord, weil die Küstenwache auftaucht. Andere fallen ins Wasser. Wenn einer schwimmen kann, sein Bruder aber nicht, dann kann er ihm vielleicht helfen. Doch womöglich sterben dann beide gemeinsam. Oder der Schwimmer rettet sich selbst und lässt seinen Bruder zurück. Manche Leute schaffen es, diese Erinnerungen zu verarbeiten, andere bleiben im Schock stecken.

Es ist ein Paradox der Einwanderungspolitik Europas: Einerseits müssen viele Migranten in ständiger Angst vor einer möglichen Abschiebung leben. Andererseits werden Personen, die auf der Reise umkommen, unidentifiziert auf europäischen Küstenfriedhöfen begraben. Wenn ein Mensch tot ist, gibt es keine Dringlichkeit mehr, ihn in sein Heimatland zurückzubringen, auch wenn seine Mutter dort sorgenvoll auf Informationen hofft.

Der junge Marokkaner Driss hat es geschafft. Sein Boot hat die kanarische Insel Gran Canaria erreicht. Nach einigen Monaten in einem Übergangslager konnte er auf das spanische Festland fliegen. Vorerst ist er in einem Wohnheim der Vereinigung Cardjín in Cadíz untergekommen. Während einer Pause des Sprachunterrichts lehnt er im Garten an einer Mauer aus Felssteinen. »Was sollen wir anderes machen?«, fragt er. »Wir haben keine Wahl. Wir können nicht einfach mit einem Visum einreisen. Nach Europa kommst du nur übers Meer.«

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